Diskurs und Rationalitäten der Pandemie-Politik und ihre Folgen
(Zur Visualisierung dieses als Vortrag geschriebenen Texts siehe anhängende PPP, Quellen finden sich ebenfalls dort. Einige Inhalte doppeln sich mit dieser Semesterarbeit, Quellen siehe ebenfalls dort.)
Das Eindrücklichste an der Corona-Pandemie war für mich die außergewöhnliche
Anpassungsleistung von Politik, Medien, Wissenschaft, Wirtschaft, Bevölkerung
und in diesem Rahmen möchte ich hinzufügen: der Professionen. Die Dominanz
eines Themas in beispiellosem Ausmaß und Dauer. Relativ bald konnte man sehen
oder hätte man sehen können, dass „Corona“, genauer gesagt die Maßnahmen zur
Eindämmung, soziale Ungleichheiten verschärfen werden, sich also die
Lebensumstände der Menschen, für die wir in der Sozialen Arbeit das Mandat
haben, gravierend verschlechtern werden. Heute ist dies längst ein Allgemeinplatz.
Wer jedoch die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen hinterfragen wollte, traf auf
harte Diffamierungen.
Betrachtet man beispielsweise die kämpferische Aufmachung des „Arbeitskreises
Kritische Soziale Arbeit Berlin“, ihr Selbstverständnis „Nicht Menschen ans
System anpassen, sondern das System an die Menschen“, einer kritischen
Grundhaltung gegenüber strukturellen Zusammenhängen und Folgen – bezogen
auf soziale Ungleichheit und Ausgrenzung, das Erkennen von Diskursen als
herrschaftslegitimierende Techniken der Wirklichkeitsproduktion und somit von
gesellschaftlichen Ordnungen ...
und schaut man dann auf ihrer Website nach aktuellen Beiträgen der Reflexion und
der Kritik an der Maßnahmenpolitik, findet man dort keine bzw vom AK München
eine einzige Stellungnahme vom März 2020 in der sie drastische Folgen für
Adressat*innen und Mitarbeiter*innen von Einrichtungen der Sozialen Arbeit
befürchten und danach nichts mehr, als ob diese Folgen nicht eingetreten wären.
Nur einmal fand ich noch den Begriff „Corona“: in einer Ankündigung zum nächsten
Treffen: Thema sollte dort unter anderem sein ihre Unterstützung zum „Aufruf für
Solidarität statt Verschwörungstheorie“.
Hier haben sie in die übliche, regierungskonforme, polarisierende
Gegenüberstellung von Solidarität und Verschwörungstheorie eingestimmt, mit der
alle maßnahmenkritischen Aktivitäten in einen Sack gesteckt wurden.
Wo war die Parteinahme für armutsbetroffene Menschen und insbesondere
Kinder und Jugendliche, die besonders vulnerabel waren für die
Maßnahmenauswirkungen?
Bezugnehmend auf das Tripelmandat der Sozialen Arbeit stellt sich die Frage, an
welchem Mandat sich die Fachkräfte in den Feldern der Kinder- und Jugendhilfe
bzw. im Feld der Bildung und Erziehung prioritär orientiert haben.
Heute häufen sich die Eingeständinisse, vornehmlich von PolitikerInnen, die
sagen, dass sie nach heutigem Kenntnisstand anders gehandelt hätten, es aber
nicht besser gewusst hätten. Tatsache ist, dass sie ziemliche Besserwisser und von
der „Alternativlosigkeit“ ihrer Politik überzeugt waren. Genaugenommen immer
noch sind.
Zweifellos hatten oder haben wir es bei der Corona-Krise mit einem sehr
verzwickten Problem zu tun.
Ich beziehe hier auf eine Definition von Reiner Grundmann eines „wicked
problems“:
also ein Problem, bei dem sehr viele gesundheitliche Aspekte, bsw. Auch
seelische Gesundheit einbezogen werden müssten, sehr viele verschiedene
Faktoren, was uns – auch nachhaltig - gesund erhält und resilient macht, bei
sehr unterschiedlich betroffenen Bevölkerungsgruppen, bei einer kaum
überschaubaren Fülle an sogenannten Kollateralschäden usw. usf.
Also eine Herausforderung, bei der es nicht nur eine und keine einfache Lösung
gibt und verschiedene Werte konfligieren.
Nach Grundmann kommt es dann zu einem Mechanismus, solche Probleme zu
„zähmen“, so dass es keinen Zweifel geben, stattdessen doch eine „unique“
Lösung geben kann und ein Wert alle anderen aussticht – in der Pandemie war
dies die Eindämmung des Virus.
Zur Eindämmung des Virus gab es aus Sicht von Virologen bsp. ganz klare, nicht
verzwickte Maßnahmen, an denen es keinen Zweifel geben kann.
Sehr eingeprägt hat sich mir, als Lothar Wieler, der Chef des deutschen RKI in
einer Pressekonferenz im Juli 2020 sagte, dass die Regeln „überhaupt nie
hinterfragt werden dürfen“: „Die [Regeln] müssen also der Standard sein. Die
dürfen überhaupt nie hinterfragt werden. (...) zusätzlich Alltagsmasken oder Mund-Nasenschutz tragen und das gilt für Drinnen und Draußen. (...) Die dürfte und sollte niemand mehr in
Frage stellen. Das sollten wir einfach so tun.“
Auf Beispiele, wie mit Menschen umgegangen wurde, die damals dennoch wagten,
die Geeignetheit von Maßnahmen zu hinterfragen, komme ich noch. Auf diesem
Hintergrund wirkt es zynisch, wenn man hört, wie der Bundesgesundheitsminister
Karl Lauterbach heute einen Teil jener Maßnahmen als nutzlos einschätzt, die auch
er am härtesten verfochten hatte, wenn man hört, wie er bei Markus Lanz
„Exzesse“ bei den Maßnahmen anprangerte und „diese Regeln draußen“ gar als
„Schwachsinn“ bezeichnete.
Bleiben wir noch bei Karl Lauterbach, der seine Doppelrolle als Wissenschaftler
und Politiker zu nutzen weiß. Hier ein Auszug aus einer Bundestagssitzung im April
2022, in der die Einführung der Impfpflicht debattiert wurde.
Nicht nur die Wissenschaft sei sich einig, sondern die „gesamte Wissenschaft der
Welt“. In seiner Doppelrolle hat der Minister sicherlich einen exklusiven Zugang.
Aber welches Bild von Wissenschaft liegt einer solchen Aussage zugrunde?
Im Prinzip gilt in der Wissenschaftstheorie die Annahme, dass Wissenschaft,
deren Erkenntnisse zeit- und kontextabhängig und länderspezifisch unterschiedlich
ausfallen, so dass die wissenschaftliche Fundierung stark von der jeweiligen
politischen Ausrichtung der Regierung und der Landeskultur abhängt, wie dieses
Zitat hier zeigt:
„Scholars increasingly observe this plurality and heterogeneity of scientific expertise due to diverging political, cultural, and institutional contexts and due to the diversity of scientific disciplines and epistemic cultures“.
Trotz dieser großen Heterogenität ist es üblich, sich ohne den Hinweis auf diese
Pluralität auf die Wissenschaft oder ‚eine Studie‘ zu beziehen, als gäbe es eben nur
eine und in dieser einen auch nur eine einzige, umfassende, ewig gültige Wahrheit.
Wissenschaft dient auf diese Weise vor allem dem strategischen Gebrauch, auf
diese Weise werden Aussagen zu Fakten und von Meinungen abgegrenzt:
“This heterogeneity manifests in the different roles that researchers adopt in policy debates. Scholars demonstrate that researchers strategically draw on academic knowledge to position themselves in public debates. In varying contexts, researchers present distinct bodies of academic knowledge, interpret academic findings differently, and play a political role by providing informed opinions on policy-making“.
Noch kurz zurück zu dem Beispiel von eben: Dass auch Lauterbach hier rein strategisch argumentierte, zeigt sich in einer anderen Äußerung, die er jüngst bzgl. der Schulschließungen im ARD Morgenmagazin tätigte: Als der Journalist nachfragt, warum denn – sich ebenfalls auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufend - andere Länder viel moderater bei Schulschließungen waren, diese entweder gar nicht oder schon viel früher abgeschafft haben, verweist er auf den damaligen Stand der deutschen Wissenschaft. Nach dieser mussten deutsche Schulen anscheinend länger geschlossen werden als Schulen in allen anderen europäischen Staaten. Er ist sich also der nationalstaatlichen Heterogenität von Wissenschaft sehr bewusst, auch wenn er sonst nur von DER Wissenschaft spricht.
Während der Corona-Pandemie war eine solche Differenzierung nicht möglich,
man war entweder Leugner oder eben nicht, Befürworter oder Verschwörungstheoretiker.
Diese Pauschalverurteilung, die „vorschnelle Verurteilung“ von KritikerInnen,
das „Ins-Abseits-Stellen“, ohne in einen Diskurs zu gehen, wurde daher sogar
im Evaluationsbericht eines vom Bundesgesundheitsministerium beauftragten
Sachverständigenausschusses, der am 30.06.22 erschien, eingestanden
So sagte Frank-Ulrich Montgomery –Ärztepräsident und Aufsichtsratsvorsitzender der
Deutschen Apotheker- und Ärztebank in der Talkshow Maybrit Illner im November
2021, „Die Ungeimpften grenzen sich selbst aus. Wenn wir jetzt darüber reden, wie
wir die zum Impfen kriegen, haben wir doch nur die Möglichkeit: Zuckerbrot und
Peitsche. Und deswegen plädiere ich, denen klar zu machen, dass sie auch die
Folgen ihrer Unvernunft tragen müssen.“
Übrigens wieder ein interessantes Beispiel einer Naturalisierung: Die Ungeimpften
haben sich nicht selbst ausgegrenzt.
Ebenfalls bei Maybrit Illner der Ministerpräsident vom Saarland, Tobias Hans:
„Zuerst einmal müssen wir eine klare Botschaft an die Ungeimpften senden: Ihr seit
jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben.“
Auch die taz-Journalistin Susanne Knaul wünscht sich: „Wenn es mit Zuckerbrot
nicht geht, muss die Peitsche ran.“
Der Feuilleton-Chef der Süddeutsche Zeitung Peter Fahrenholz im Januar 2022: Es
gehe den „Selbstausgrenzern allein um die Abschaffung der Demokratie“. Er
bewundert den französischen Präsidenten für dessen Fäkalausdruck gegen
Impfskeptiker: "Endlich klare Worte: Wann übernimmt ein deutscher Politiker die
gleiche rüde Wortwahl und ruft den Impfverweigerern zu: Ihr geht mir ordentlich auf
den Sack, verpisst euch“. Es sei die Zeit gekommen, „laut zu werden“ und der
„bizarren Welt“ der Ungeimpften, die sich „hermetisch von der Realität abschotten“,
die Stirn zu bieten. Usw.
Ich habe mich bei diesen Äußerungen gefragt, ob hier nicht auch das gilt, was man
in Mobbing-Sensibilisierungstrainings als Übung macht: Man bittet die
TeilnehmerInnen die herabwürdigenden und bedrohlichen Aussagen, die sie über
„social media“ anderen schrieben, jetzt den Anwesenden persönlich ins Gesicht zu
sagen. In diesem Kontext bekommen die meisten diese Formulierungen dann nicht
mehr über die Lippen.
Dass es sich hier nicht nur um eine verachtende Sprache handelt, in der man
Potential zu Aggressions- und Gewaltaufrufen gegenüber einer Gruppe von
Menschen erkennen kann, sondern auch auf der Sachebene den Betroffenen
Unrecht getan wurde, zeigt sich im RKI- Monatsbericht vom November 2022, nach
dem eine durchgemachte Infektion sogar „einen etwas höheren“ sowie
langanhaltenderen Schutz bietet gegen eine weitere Infektion sowie gegen schwere
Verläufe „als eine vollständige Grundimmunisierung bzw. Auffrischimpfung alleine“.
Auch in Bezug auf die Impf-Nebenwirkungen wird mittlerweile thematisiert, dass
es einen enormen Bedarf für Forschung und Therapie zu eben diesen gibt und die
Frage zum Schadensersatz gestellt werden muss.
Dass diese sogar schwer sein können, hat der jetzige Bundesgesundheitsminister
inzwischen eingestanden. Im August 21 hatte er noch behauptet, die Impfung sei
vollständig nebenwirkungsfrei. Ruft man sich auf diesem Hintergrund die
drastischen Vorwürfe gegenüber „Ungeimpften“ in Erinnerung, wird deutlich, dass
die Kontroverse alles andere als rational und fair geführt wurde – auch wenn der
Verweis auf Vernunft und Wissenschaft gerne als rhetorisches Mittel eingesetzt
wurde. Hart getroffen hat das auch Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die sich
aufgrund der einrichtungsbezogenen Impfpflicht impfen lassen mussten oder mit
Sanktionen und schweren Vorwürfen konfrontiert waren. Persönlich war ich zu
diesem Zeitpunkt Teamleitung in einer Jugendhilfeeinrichtung und musste erleben,
wie unsere Betriebsleitung in meinem Team im Sinne von Peter Fahrenkamp dazu
aufrief, gegen die ungeimpften Kolleginnen zu agieren.
Dass jedenfalls diese „Zähmung“ eines komplexen Problems nicht gut funktioniert
hat, weil bei einem Wert wie public health bspw. viele Dimensionen berücksichtigt,
viele verschiedene Wissenszweige und Expertisen beteiligt werden müssten, zeigt
sich in immer mehr Folgeproblemen und wird jetzt eben auch von der sogenannten
„regulatory science“ bestätigt, wie bspw. dem erwähnten Sachverständigenbericht
oder der “Corona-KiTa-Studie1: Die Studie untersuchte Wirksamkeit und Folgen
von Corona-Schutzmaßnahmen bei KiTa-Kindern - und ergab grundsätzlich
gestiegene Förderbedarfe in der sprachlichen, motorischen und sozio-emotionalen
Entwicklung - ganz besonders für Kinder aus benachteiligten Verhältnissen. Die
Bundesfamilienministerin Lisa Paus sagte, „Kinder hätten in der Pandemie oft
weniger am Virus selbst als an den Folgen der Eindämmungsmaßnahmen
gelitten.“
Aus „Follow the science“ wird stattdessen nicht selten oder vielmehr regelmäßig
„Follow the economy“. Keine Verschwörungstheorie, sondern nicht so seltene
Praxis, dass Politik ihre Orientierung „anpasst“, wenn wirtschaftliche Interessen und
mächtige Lobby-Verbände im Spiel sind – und manchmal auch ganz banal PolitikerInnen sich selbst bestechen lassen. Daher möchte ich zum Abschluss kurz auf wirtschaftliche Nebenwirkungen eingehen.
In Deutschland gab es mehrere Skandale um „Provisions“-Zahlungen, mit denen
PolitikerInnen bis zu 50 Mio. Euro kassierten. Es gab Gerichtsverfahren, aber das
Ergebnis war, dass diese Gelder nicht zurückgegeben werden müssen. Man kann
sich vorstellen, dass solche Praktiken dann keine Ausnahme sind.
Im zweiten Beispiel haben wir auf der einen Seite obszöne Gewinne der
Pharmaindustrie. Pfizer verdiente im Jahr 2021 fast 37 Milliarden Dollar allein mit
dem Verkauf des Impfstoffes –damit ist dies eines der lukrativsten Produkte in der
Wirtschaftsgeschichte. Die Einnahmen verdoppelten sich im Jahr 2021 und liegen
so über dem Bruttoinlandsprodukt der meisten Staaten.
Obwohl die deutsche Firma Biontech allein 2021 einen Profit von 7 Milliarden Euro
machte, zahlten sie nichts von den 375 Millionen Euro Steuergeldern zurück, die
sie zur Förderung bekamen. Ebenfalls weigern sie sich, die Patente für ärmere
Länder freizugeben. 2021 erhielten sie das Bundesverdienstkreuz.
Auf der anderen Seite wird der Impfstoff so teuer verkauft, dass ihn ein Land wie
die Ukraine nicht kaufen konnte – geschweige denn Länder des Globalen Südens.
Stattdessen gibt es erstmals seit Jahren wieder eine drastische Zunahme an
Hungertoten sowie von Toten durch nicht mehr hergestellte andere
Therapien/Arzneimittel, gerade im globalen Süden. Diese Folgen der
Pandemiepolitik werden jedoch als Folgen der Seuche naturalisiert.
Eine der Kritiken an den Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise lautet
daher, dass hier, wie bei vielen Krisen, die Rationalitäten und Programmatiken dazu
führten, dass Profite und Privilegien dort gesteigert wurden, wo sie schon waren
und soziale Ungleichheiten weiter verschärft wurden.
Nach der „Brennglas“-Metapher formuliert: Probleme und Ungleichheiten wurden
sowohl entfacht, als auch vergrößert und tiefer eingebrannt. Folgen werden
naturalisiert und legitimiert mit Begriffen wie „Naturgewalt“, „Alternativlosigkeit“ und
„unverschuldetem Unwissen.
m.E. gute Gründe, über die Logik der Corona-Krise, die Bedingung ihrer
Möglichkeit und ihre Bearbeitung zu sprechen und sie zu analysieren. Ein Projekt,
das ich im Rahmen meiner Dissertation unternehmen möchte.