Giorgio Agamben: Ich hätte da eine Frage

Giorgio Agamben zum Umgang der liberalen Demokratien mit dem
Coronavirus: Ich hätte da eine Frage

Gastkommentar in
Neue Zürcher Zeitung vom 15.4.2020

Quelle:
https://www.nzz.ch/feuilleton/coronavirus-giorgio-agamben-zum-zusammenb… [Zugriff 26.04.20]

Auszüge:

"Ein Land, ja eine Kultur implodiert gerade, und niemanden scheint es
zu kümmern. Was spielt sich gerade vor unseren Augen in den Ländern
ab, die von sich behaupten, sie seien zivilisiert?

Ich möchte mit denjenigen, die Lust dazu haben, eine Frage teilen,
über die ich seit einem Monat unablässig nachdenke. Wie konnte es
geschehen, dass ein ganzes Land im Angesicht einer Krankheit ethisch
und politisch zusammenbrach, ohne dass man dies bemerkte?

(...)

Drei Punkte

1.) Der erste und vielleicht schwerwiegendste Punkt betrifft die
Körper der toten Personen. Wie konnten wir nur im Namen eines Risikos,
das wir nicht näher zu bestimmen vermochten, hinnehmen, dass die uns
lieben Menschen und überhaupt alle Menschen in den meisten Fällen
nicht nur einsam sterben mussten, sondern dass ihre Leichen verbrannt
wurden, ohne bestattet zu werden? Dies ist in der Geschichte von der
mythischen griechischen Königstochter Antigone bis heute nie
geschehen.

2.) Wir haben bedenkenlos hingenommen, wiederum nur im Namen eines
nicht näher zu bestimmenden Risikos, dass unsere Bewegungsfreiheit in
einem Ausmass eingeschränkt wurde, wie dies zuvor nie in unserem Land
geschah, nicht einmal während der beiden Weltkriege (die
Ausgangssperre galt damals für bestimmte Stunden). Wir haben also
hingenommen, im Namen eines nicht näher zu bestimmenden Risikos die
Pflege unserer Freundschafts- und Liebesbeziehungen einzustellen, weil
unser Nächster zu einer möglichen Ansteckungsquelle wurde.

3.) Dies konnte geschehen – und hier berühren wir die Wurzel des
Phänomens –, weil wir die Einheit unserer Lebenserfahrung, die immer
zugleich körperlich und geistig ist, in eine bloss biologische Einheit
einerseits und in ein affektives und kulturelles Leben anderseits
aufgespalten haben. Der Philosoph und Theologe Ivan Illich hat
gezeigt, welche Verantwortung der modernen Medizin in dieser Spaltung
zukommt. Sie scheint sich von selbst zu verstehen, in Wirklichkeit ist
sie aber die grösste aller Abstraktionen. Ich weiss, dass diese
Abstraktion von der modernen Wissenschaft durch
Wiederbelebungs-Apparate erreicht wurde, die einen Körper in einem
Zustand des vegetativen Lebens zu erhalten vermögen.

(...)
Was ist mit der Kirche?

Da ich an die Verantwortung von uns allen erinnert habe, komme ich
hier nicht umhin, die noch schlimmere Verantwortung derjenigen zu
erwähnen, die die Aufgabe gehabt hätten, über die Würde des Menschen
zu wachen. Vor allem die Kirche, die – indem sie sich zur Magd der
Wissenschaft gemacht hat, welche mittlerweile zur neuen Religion
unserer Zeit geworden ist – ihre wesentlichen Prinzipien radikal
verleugnet.

Die Kirche unter einem Papst, der sich Franziskus nennt, hat
vergessen, dass Franziskus die Leprakranken umarmte. Sie hat
vergessen, dass eines der Werke der Barmherzigkeit darin besteht, die
Kranken zu besuchen. Sie hat vergessen, dass die Martyrien die
Bereitschaft lehren, eher das Leben als den Glauben zu opfern, und
dass auf den eigenen Nächsten zu verzichten bedeutet, auf den Glauben
zu verzichten.

Warum schweigen die Juristen?

Eine andere Kategorie von Leuten, die ihren Aufgaben nicht mehr
gerecht zu werden vermögen, sind die Juristen. Wir sind seit geraumer
Zeit an den leichtfertigen Gebrauch von Notverordnungen gewöhnt, durch
die sich die Exekutivgewalt de facto an die Stelle der
Legislativgewalt setzt und damit jenes Prinzip der Gewaltenteilung
aushebelt, das die Demokratie definiert.

Doch in diesem Fall wurde jede Grenze überschritten, und man hat den
Eindruck, dass die Worte des Ministerpräsidenten und des Chefs des
Zivilschutzes unmittelbare Gesetzeskraft haben, wie man dies einst von
den Worten des «Führers» sagte. Und man sieht nicht, wie entgegen
allen Ankündigungen die Einschränkungen der Freiheit – nach Ablauf der
zeitlichen Gültigkeit der Notstandsverordnungen – aufrechterhalten
werden können. Mit welchen juristischen Mitteln? Mit einem ständigen
Ausnahmezustand? Es ist die Aufgabe der Juristen, darüber zu wachen,
dass die Regeln der Verfassung eingehalten werden, doch die Juristen
schweigen. Quare siletis iuristae in munere vestro? (Warum schweigt
ihr, Juristen, wenn es um eure Aufgabe geht?)

Ich weiss, dass es immer Leute geben wird, die sich erheben und
antworten werden: Das durchaus schwere Opfer sei im Namen moralischer
Prinzipien dargebracht worden. Sie möchte ich daran erinnern, dass
Adolf Eichmann – offensichtlich in gutem Glauben («buona fede») –
nicht zu wiederholen aufhörte, dass er, was er getan hatte, aufgrund
seines Gewissens getan habe, um dem zu genügen, was er für die Gebote
der kantischen Moral hielt.

Eine Norm, die besagt, dass man auf das Gute verzichten müsse, um das
Gute zu retten, ist ebenso falsch wie die, welche verlangt, dass man
auf die Freiheit verzichten müsse, um die Freiheit zu retten.

************************************************************************

Giorgio Agamben ist ein italienischer Philosoph und Autor. Er hat viel
zum Thema des Ausnahmezustandes publiziert, darunter das gleichnamige
Buch «Ausnahmezustand» (Suhrkamp-Verlag, 2004). Zuletzt sind von ihm
die Werke «Was ist Philosophie?» (Fischer-Verlag, 2018) und «Die Macht
des Denkens: Gesammelte Essays» (Fischer-Verlag, 2013) erschienen. –
Aus dem Italienischen übersetzt von René Scheu."