Überwachen und Strafen: Interpretative Nacherzählung

Die Entwicklung der Psyche korreliert mit gesellschaftlichem (Straf-)System

In seinem Buch Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses1 schreibt Michel Foucault nach eigener Aussage „die Korrelationsgeschichte der modernen Seele und einer neuen Richtgewalt“ (33). Er versucht mit anderen Worten eine „Genealogie der modernen ‚Seele‘ (...) Psyche, Subjektivität, Persönlichkeit, Bewusstsein, Gewissen“ (41 f.) und macht damit die grundsätzliche Aussage, dass ‚die menschliche Seele‘ und auch die anderen synonym gebrauchten Begriffe respektive Phänomene nicht unveränderlich und zeitlos vorhanden sind. Damit weist Foucault essentialistische Annahmen über ihr ‚Wesen‘ zurück. Um die moderne Seele zu beschreiben, braucht es demnach eine „Genealogie der modernen Gesellschaft“ (286).

Als Ausgangs- und Bezugspunkt für diese Genealogie wählt F. die Geschichte des Strafens, da er davon ausgeht, dass sich die „Wahrheit“ und „Macht“ einer jeden Gesellschaft „im Herzen [ihrer] Strafmechanismen“ (73) zeige. In der Veränderung der Strafmechanismen offenbart sich die Wahrheit und Macht einer Gesellschaft, offenbaren sich die Funktionen, die sie für ihren Erhalt braucht.

F. arbeitet die Linien dieser Veränderungen heraus. Eine Hauptlinie zeichnet er entlang der „Individualisierung der Strafen“ (126). Die individualisierte Strafe wird nach Einschätzung der Seele oder des Charakters des Individuums bemessen und nicht an der Straftat. Damit ist ein spezifischer Unterschied zwischen Feudalgesellschaft resp. „Ancien Régime“ (104), wie F. diese auch bezeichnet, und moderner Gesellschaft benannt. F. entfaltet unter anderem die These, dass die Richtgewalt im Feudalsystem nicht „homogenisierend wirkt, sondern verurteilend ein für allemal entscheidet und scheidet“ (236). Wichtig ist hier die auf den ersten Blick widersprüchlich wirkende Figur, dass die zunehmende Individualisierung homogenisierend wirkt. Im Feudalsystem, so die weitergehende These, haben wir es jedenfalls mit einer „‚aufsteigenden‘ Individualisierung“ zu tun, im Disziplinarregime sei die Individualisierung dagegen „‚absteigend‘“. Das heißt, bei ersterem steht der Einzelne, das Individuum, zunehmend im Mittelpunkt, je höher sein gesellschaftlicher Status ist. (248) Der Souverän ist das wahrgenommene Individuum, dessen Eigenheiten gekannt und erforscht werden müssen. Beim Verurteilten sind dagegen keine Graustufen nötig, Urteil und Strafmaß werden nicht an seiner Persönlichkeit ausgerichtet, sondern sind im Vorhinein festgelegt und treten nach einer ‚einfachen‘ Wahr-/Falsch-Prüfung in Kraft (das Verbrechen wurde begangen oder nicht).

Die aus moderner Sicht unfassbare Grausamkeit der physischen Marter in der Feudalzeit plausibilisiert F. unter anderem mit der allgegenwärtigen Nähe von Tod und der allgemeinen Verletzbarkeit des Körpers: Die Menschen müssen einen Umgang damit finden und entwickeln Rituale, die den Tod „integrieren und annehmbar machen, seiner ständigen Aggression einen Sinn verleihen sollten“ (72). In der scheinbaren „‘Verachtung‘ des Körpers“ zeigt sich die „allgemeine Einstellung zum Tod“. Die Strafe musste in einer „physischen Konfrontation zwischen dem Souverän und dem Verurteilten“ ausgetragen werden (93).

Doch woraus resultiert die „rätselhafte ‚Milde‘“ des modernen Strafsystems? F. beschreibt eine „zweifache Bewegung“, nach der auf der einen Seite die „Verbrechen an Gewaltsamkeit zu verlieren scheinen“, und auf der anderen Seite die „Intensität der Bestrafungen nachläßt und ihre Häufigkeit zunimmt“. (95) Dies ist

Teil eines komplexen Mechanismus aus Produktionsentwicklung, Vermehrung der Reichtümer, rechtlicher und moralischer Aufwertung der Eigentumsbeziehungen, strengeren Überwachungsmethoden, sorgfältigerem Durchkämmen der Bevölkerung, besseren Erfassungs-, Ergreifungs- und Ermittlungstechniken (99).

Dieser „komplexe Mechanismus“ ist die Bedingung für die Ablösung von Gewaltverbrechen durch Eigentumsdelikte (96). Letztere werden attraktiver, obwohl sie gleichzeitig strenger geahndet und besser aufgeklärt werden können. Die Veränderung der ‚Psychen‘ oder der Charaktere des Verbrechers sowie der Richtgewalt sind gesellschaftlich bedingt.

Ökonomisierung der Züchtigung

Diese gesellschaftlichen Veränderungen führten nach F. zu einer Umgestaltung der „gesamten Ökonomie der Züchtigung“ innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums (14), der „großen Transformation der Jahre 1760-1840“ (24): die wirtschaftlichen, technischen, wissenschaftlichen und sozialen Entwicklungen ermöglichen und erfordern ein effektiveres und effizienteres Strafsystem. So geraten die Kosten und Effekte des Strafsystems in den Blick: „Zu einer ausnutzbaren Kraft“, zu einer Ressource „wird der Körper nur, wenn er sowohl produktiver wie unterworfener Körper ist.“ (37) Ein nur unterworfener, verstümmelter oder gar toter Körper besitzt keinen Mehrwert für die Gesellschaft. Die Abkehr von der Praktik des Marterns führte zu dem Paradox, dass „heute zum Tode Verurteilte bis zum letzten Augenblick von einem Arzt überwacht werden müssen (…) als Verantwortlicher für das Wohlbefinden“. (19)

F. sieht „die wesentlichen Gründe für die Strafrechtsreform des 18. Jahrhunderts“ (113) darin, die Strafgewalt „geregelter, wirksamer, beständiger und präziser [zu] machen; sie soll ihre Wirksamkeit erhöhen und ihre ökonomischen Kosten ebenso senken (…) wie ihre politischen Kosten (durch ihre Ablösung von der Willkür der monarchischen Macht)“ (103). Eine „präventive, utilitaristische, korrektive Konzeption“ (169) beherrscht den Diskurs und bringt den „homo oeconomicus“ (158) hervor.

Damit der Mensch zu einem solchermaßen nützlichen Subjekt der Gesellschaft wird, muss er erzogen werden, die Ökonomisierung braucht die Erziehung und die Erziehung braucht die „Disziplinen“. Das Strafsystem zielt nicht mehr auf den Körper, sondern auf die Seele (25). Hiermit sind zentrale Charakteristika von Disziplinen genannt, die in Ü+S in Kapitel III und hier in Kapitel 2.1.5 ausführlicher beschrieben werden: Disziplinen richten sich nach Kriterien der „Wertschöpfung (…), Milde/Produktion/Profit.“ (281) Sie arbeiten „diskret“, „kostensparend“, „anonym“, „koextensiv“ (282).

Am Ende des Buches wirft F. jedoch die Frage auf, ob, angesichts der 150-jährigen Misserfolgsgeschichte der Strafhaft bzw. des Gefängnisses, die vorgegebenen Motive der Erziehung des Delinquenten, der Verbesserung seiner Produktivität sowie der Effektivierung des Strafsystems ernstgenommen werden können. „Vielleicht (...) sollte man das Problem umkehren und sich fragen, wozu der Mißerfolg des Gefängnisses gut ist.“ (350)

F. erklärt die Diskrepanz mit der Hypothese, dass die Funktion der Richtgewalt in der modernen Gesellschaft weniger in der Besserung des Einzelnen besteht, sondern darin, ein geordnetes, in die Gesamtgesellschaft eingebettetes und überschaubares, „tatsächlich (…) zentral kontrolliertes“ Delinquentenmilieu zu erzeugen und aufrecht zu erhalten. „Das Strafsystem produziert also eine geschlossene, abgesonderte und nützliche Gesetzwidrigkeit“ (357). Auf diese Weise fungiert die „Delinquenz [als] eine Ablenkungsanlage für die ungesetzlichen Gewinn- und Macht-Schleichwege der herrschenden Klassen“ (361). Die „Normierungs“- und „Normalisierungsmacht“ (392 f.) der Strafhaft liegt in ihrer scheinbaren „Niederlage“ (340).

Interessant sind die weitergehenden Überlegungen F.s, nach denen mit der fortschreitenden Individualisierung und der Verfeinerung der Straf- und Überwachungsverfahren, das Gefängnis jedoch an Bedeutung verlieren wird.

Humanismus oder Strafe als Erziehung

Zurück ins „klassische Zeitalter“ (155), wie F. den Zeitraum von etwa Anfang des 17. bis etwa Ende des 19. Jahrhunderts nennt, in dem die Wurzeln dieser neuen Normen liegen, geprägt von der Idee des Humanismus, in dem es um „mehr ‚Menschlichkeit‘“ (25) gehen sollte. Blickt man mit heutigem Abstand auf die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, erscheint die These plausibel, dass eine Humanisierung der Methoden der Strafgewalt – oder, wie F. scharf formuliert, der „Unterwerfungsmethoden“ (34) – nicht so idealistisch wie dargestellt, sondern oftmals ökonomisch motiviert war. So findet sich in den Strafrechtstheorien dieser Zeit die Überlegung, dass „eine in ihren Gewaltanwendungen gemäßigtere Justiz wirksamer sei, da sie vor ihren eigenen Konsequenzen nicht zurückzuweichen brauche“ (98). Daher wird sie häufiger in Gang gesetzt, es wird mehr gestraft. Auf dieses Muster soll später noch eingegangen werden.

Abseits der Frage nach ‚eigentlichen‘ Funktionen betrachten wir aus heutiger Sicht zweifellos Methoden als ‚menschlicher‘, in denen versucht wird, den Verbrecher „zu bessern, zu erziehen, zu ‚heilen‘“ (17), anstatt ihn „ein für allemal zu verurteilen“ (236). Maßnahmen, die das „Wohlbefinden“ (19) und den „Willen des Subjekts“ (27) berücksichtigen, die keine physische Gewalt anwenden, nicht auf den „Körper“, sondern auf die „Seele“ (25), die „auf die Zukunft gerichtet sind“ (164). Solchermaßen abgestimmte Strafmechanismen erfordern selbstverständlich eine „ganze Reihe von abschätzenden, diagnostischen, prognostischen, normativen Beurteilungen des kriminellen Individuums“ (29).

„Die Richter richten [somit] über etwas anderes als über Verbrechen“ - sie richten über den Charakter des Verbrechers (32). Die neue Richtgewalt erfordert, auf den Willen Einfluss zu nehmen. „Der Richter unserer Tage (…) hat nicht mehr ausschließlich zu ‚richten‘“ und „er ist auch nicht mehr der einzige, der zu richten hat“. „Nebenrichter“ wie „psychiatrische oder psychologische Sachverständige, Beamte des Strafvollzugs, Erzieher“ bestimmen die Strafe mit. (31) Die Strafe muss einen pädagogischen Zweck haben: So ist im Falle der Landstreicherei, hinter der die „Faulheit“ steckt, „die Beschäftigung (…) die beste Strafe“ (136). Aus demselben Grund ist es wichtig, dass „die Strafe sich mit den von ihr herbeigeführten Wirkungen abschwächt.“ (138) Die pädagogische Strafmaßnahme muss dem Delinquenten als durch sein Handeln modellierbar erscheinen. Des Weiteren hat sie die, nicht neue, aber nach wie vor wichtige Aufgabe, präventiv zu wirken: „nicht mehr ein Manifestationsritual, sondern ein Verhinderungszeichen zu sein“, das sich „vor allem an die anderen: an alle potentiellen Schuldigen richtet.“ (139)

F. begründet seine These, dass die Strafreform vermutlich nicht (nur) humanitär begründet, sondern ökonomisch kalkuliert war, damit, dass die Strafe nun sogar eine doppelte Funktion erfüllt. Während „im alten System der Körper des Verurteilten zur Sache des Königs wurde (…) ist er jetzt eher ein gesellschaftliches Eigentum, Gegenstand einer kollektiven und nutzbringenden Aneignung.“ Wer beispielsweise nicht zum Tode, sondern zu lebenslanger Haft verurteilt wird und „öffentliche Arbeit“ verrichtet, „zahlt somit zweifach: durch die Arbeit, die er leistet, und durch die [präventiv wirkenden] Zeichen, die er von sich gibt.“ (140 f.)

Die humanisierte, pädagogisierte Strafe ist multifunktional, zukunftsfähig, anschlussfähig.

Die Frage ist jedoch, eignet sich die Einsperrung als Strafform, die primär pädagogisch, präventiv und produktiv wirken soll? „Die Idee des Strafgefängnisses wird von vielen Reformern sogar ausdrücklich kritisiert“. (147) „Wie konnte die Inhaftierung (…) in so kurzer Zeit zu einer der allgemeinsten Formen der Bestrafung werden?“ (155) F. vermutet die Antwort im Erfolg einiger Anstalten, die genau in diesem „klassischen Zeitalter“ großes Ansehen erlangten und dadurch zu einem Modell für die Verflechtung von Strafen und Erziehen - die Disziplinarstrafe - wurden (232).

Von diesen modellgebenden Anstalten sei die erste das ‚Rasphuis‘ in Amsterdam gewesen, eröffnet 1596, das „vor allem für Bettler und junge Tunichtgute bestimmt war“ (155 f.). Ihm „kommt eine Schlüsselstellung zu, sofern es zwischen der für das 16. Jahrhundert typischen Theorie einer pädagogischen und geistlichen Umformung der Individuen durch stete Übung und den in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts [also in der großen Transformation] erdachten Straftechniken vermittelt.“ (156) In letzteren zeigt sich, wie beschrieben, schon das ökonomische Denken.

In all diesen Anstalten war die Arbeit Pflicht und wurde entlohnt, wodurch der Häftling die Möglichkeit hatte, „sein Schicksal während und nach der Haft zu verbessern“, was neben anderen nützlichen Funktionen dazu beitragen sollte, „eine große Menge neuer Arbeiter heranzubilden“ und somit „zur Senkung der Arbeitslöhne“ (157). Ein weiteres zentrales Kennzeichen war die Isolierung, die Unterbringung in Zellen, nach dem Vorbild des „christlichen Mönchtums“ (158). Hinzu kam erstmals auch die lückenlose Verplanung der Zeit, um eine stete Übung resp. „Dressur“ (167) und „pausenlose Überwachung“ (160) zu gewährleisten. Ein „‘Reformatorium‘“ erfüllt eine „dreifachen Funktion als abschreckendes Beispiel, als Konversionsinstrument und als Handwerkslehre“ (159).

Das „berühmteste“ Modell, das „im Jahre 1790 eröffnete Gefängnis von Walnut Street“, sei vom Geist der Quäker geprägt“ gewesen (160). Neu ist hier die Funktion von „Inspektoren – zwölf angesehene Bürger der Stadt“ (163) werden eingesetzt, die sich kontinuierlich und umfassend über das Verhalten der Gefangenen zu informieren haben: „die Bildung eines Wissens von den Individuen – als Voraussetzung und Konsequenz – begleitet diese Kontrolle und Umformung des Verhaltens.“ (162) Erst durch diese Form der Überwachung, Informationssammlung und -auswertung wird es möglich, die „Individuen (…) weniger aufgrund ihrer Verbrechen als vielmehr entsprechend ihren gezeigten Charakteren zu verteilen.“ (163) Erst mit dieser Form der Überwachung wird eine „Individualisierung der Strafe“ (165) möglich.

Wichtig für die Korrelationsgeschichte des Strafens und Erziehens ist, dass man in diesen Anstalten „ein besonderes Verhältnis zwischen dem Bestraften und dem Bestrafenden“ herstellt (167). Dieses besondere Verhältnis kennt man heutzutage – unter anderem in der institutionalisierten Erziehung - auch zwischen Erzieher und Zögling. ‚Erziehung ist Beziehung‘ heißt das einprägsame Motto, das in pädagogischen Ratgebern, Konzeptionen oder Fortbildungen weit verbreitet ist. Eine andere zum Standard in Erziehungsberatungen gehörige Empfehlung lautet, dass die Strafen oder Sanktionen, die Kinder für Fehlverhalten bekommen, ‚Konsequenzen‘ des Verhaltens sein sollen. Auch dieses Ideal findet sich bereits in den Strafrechtstheorien der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: „Die ideale Bestrafung“ ist eine, „welche die Form einer natürlichen Abfolge annimmt, nicht mehr als willkürliche Wirkung einer menschlichen Gewalt erscheint“. F. analysiert, dass die Vorstellung, die Strafe fließe dann „nicht mehr aus dem Willen des Gesetzgebers, sondern aus der Natur der Dinge“ verschleiern solle, dass auch diese Strafen vom Menschen ersonnen wurden. „Die Strafen sollen also durch Institutionen geschaffene Naturgegebenheiten sein“. (134) Auf diese Weise werden Tat und Strafe kausal verknüpft, letztere folgt auf erstere unvermeidlich und unverzüglich und „beweist, daß der Code, der die Ideen verbindet, auch die Wirklichkeiten verbindet.“ (141) Die konstruierte Wirklichkeit zeigt sich so als Naturgegebenheit.

Grundlegend ist jedenfalls, dass eine Strafe nicht einfach eine Strafe ist, sondern „korrigierend“ wirken muss, Disziplinarstrafe wird. Diese fällt „in den Bereich des Übens, des intensivierten, vervielfachten, wiederholten Lernens“. Der Priester und Pädagoge, Begründer eines Ordens und einer Besserungsanstalt für straffällige Jugendliche, Jean-Baptiste de la Salle, noch heute verehrt2, lobte daher die Strafaufgabe, bei der ein „Lehrer selbst die Fehler [der] Kinder als Mittel zu benützen weiß“. (232)

F. unternimmt eine Unterscheidung zwischen den Reformern der Strafrechtstheorie und den reformatorischen Besserungsbemühungen: Bei ersteren ziele die Strafe auf die „Vorstellungen“: „Mit welchen Instrumenten wirkt man auf die Vorstellungen ein? Mit anderen Vorstellungen“. (166) Bei letzteren sei die „Zielscheibe der Strafe nicht die Vorstellung, sondern der Körper, die Zeit, die alltäglichen Gesten und Tätigkeiten. Auch die Seele ist Zielscheibe, aber nur in dem Maße, in welchem sie der Sitz der Gewohnheiten ist.“ Die Mittel dieser an Ansätze der Verhaltenstherapie erinnernden Strafform seien „Übungen“ und „Dressur“.

Dieser Differenzierungsversuch wirkt nicht ganz überzeugend, zumal F. an anderer Stelle von der Seele als dem Gefängnis des Körpers spricht (42), dies ist allerdings für das hier verfolgte Thema nicht entscheidend. Das oben angesprochene „besondere Verhältnis zwischen dem Bestraften und dem Bestrafenden“ impliziert, dass es nicht nur um körperliche Dressur geht, sondern ein Einwirken auf die Seele, die Vorstellung einer Beziehung, auch hier die Bedingung ist, damit mensch die Dressur nachhaltig verinnerlicht. So beschreibt F. etwas später die „Disziplin“ auch als „eine aus Beziehungen bestehende Macht“ (229) und: „Eine wirkliche Unterwerfung geht mechanisch aus einer fiktiven Beziehung hervor, so daß man auf Gewaltmittel verzichten kann, um den Verurteilten zum guten Verhalten (…), den Schüler zum Eifer (…) zu zwingen.“ (260)

Eine markante Beschreibung von (symbolischer) Manipulation, bei der Ideen stärker wirken als physische Konfrontation, zitiert F.:

Wenn ihr so die Kette der Ideen in den Köpfen eurer Mitbürger gespannt habt, könnt ihr euch rühmen, sie zu führen und ihre Herren zu sein. Ein schwachsinniger Despot kann Sklaven mit eisernen Ketten zwingen; ein wahrer Politiker jedoch bindet sie viel fester durch die Kette ihrer eigenen Ideen; deren erstes Ende macht er an der unveränderlichen Ordnung der Vernunft fest. Dieses Band ist um so stärker, als wir seine Zusammensetzung nicht kennen und es für unser eigenes Werk halten. Verzweiflung und Zeit nagen an Ketten aus Eisen und Stahl, sie vermögen aber nichts gegen die gewohnheitsmäßige Vereinigung der Ideen, sondern binden sie nur noch fester zusammen. Auf den weichen Fasern des Gehirns beruht die unerschütterliche Grundlage der stärksten Reiche. (Joseph Michel Antoine Servan, Jurist und Strafrechtsreformer, zitiert nach Foucault, 131)

Dieses Zitat enthält Kernelemente der foucaultschen Analyse über die Verflechtungen von Ideen und Macht, der Bedeutung des Lernens für die Stabilisierung der Macht – und somit für Wissenschaft und Bildung als Schaltstellen der Macht.

Der Macht/Wissen-Komplex

Folgerichtig fällt in diese Zeit, die Zeit der Aufklärung, auch die Entstehung der Humanwissenschaften, denn um die Strafe zu individualisieren, damit sie „dem besonderen Charakter eines jeden Verbrechers gerecht“ werde (126), und er mit ihrer Hilfe zu einem nützlichen Subjekt der Gesellschaft erzogen werde, muss so viel Wissen wie möglich über das Subjekt und die Gesellschaft gesammelt, gespeichert und ausgewertet werden, weshalb seit der Aufklärung bis heute immer feinere und flächendeckendere Überwachungstechniken entwickelt werden. Die „Konstituierung der empirischen Wissenschaften (…), [d]as große empirische Erkennen (…) hat zweifellos sein Operationsmodell in der Inquisition“. (289) Aus dieser Korrelation folgert F., dass „die Geschichte des Strafrechts und die Geschichte der Humanwissenschaften nicht als zwei getrennte Linien behandelt werden sollen“ (34). Vielmehr versucht er eine „Genealogie des heutigen Wissenschaft/Justiz-Komplexes“ (33).

Die „große Transformation“, die genau in der Zeit stattfindet, die auch „das ‚pädagogische Jahrhundert‘“3 genannt wird, erfordert neue und erweiterte Kenntnisse des „im Verbrecher entdeckten ‚Menschen‘“ (94) und seines ‚Wesens‘, welche durch die „klinischen“ oder „empirischen Wissenschaften“ und deren Institutionen generiert werden (246, 288, 382). Die „spezifische Unterwerfungsmethode [des transformierten Systems] führte zur Geburt des Menschen als Wissensgegenstand“ (34 f.).

Zentral für die foucaultsche Machttheorie ist die These, dass das Strafsystem nicht primär „(oder gar ausschließlich) eine Methode der Unterdrückung von Verbrechen“ ist, seine Funktion nicht nur in der Sanktionierung von Verbrechen oder der Wiederherstellung der Gerechtigkeit besteht, sondern es weit darüber hinausgehende gesellschaftliche Funktionen erfüllt. Berühmt ist F.s Machtverständnis, mit dem er zeigen will, dass Machtmechanismen „nicht einfach ‚negative‘ Mechanismen sind, die einschränken, verhindern, ausschließen, unterdrücken; sondern daß sie an eine Reihe positiver und nutzbringender Effekte geknüpft sind“. Beispielsweise diene das Strafsystem vordergründig „zwar zur Sanktionierung der Vergehen (…), die Definition der Vergehen und deren Verfolgung aber wiederum dazu, die Strafmechanismen in Gang zu halten.“ (35) Wie weiter oben schon angesprochen, geht es letztlich immer um die „politische Besetzung des Körpers (…) als Produktionskraft“ (37). „In Wirklichkeit ist die Macht produktiv“ (250).

Wie wirken diese Mechanismen im Bildungs- oder Wissenschaftssystem? Ein Exkurs in die Funktionen der Schule als institutionalisiertem Macht-/Wissen-Komplex soll einige Aspekte verdeutlichen: Offiziell hat sie die Aufgabe, die „Begabungen, Fähigkeiten und Neigung“ möglichst jedes Kindes zu fördern, die Erziehung zur Achtung der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, Leistung festzustellen und zu fördern4. Die soziologischen Klassiker Émile Durkheim und Talcott Parsons haben dagegen die Funktion der Schule, die Gesellschaft zu reproduzieren,5 offen formuliert, freilich nicht kritisch in Frage gestellt. Für sie ist Schule ein notwendiges Mittel, die moderne Gesellschaft, so wie sie ist, aufrecht zu erhalten. So muss nach Durkheim die Schule "Einsicht in die Notwendigkeit und Vernunft gesellschaftlicher Regeln" vermitteln, so dass das Individuum letztlich will, was es soll. Die Normen müssen zur "zweiten Natur" geworden sein, d.h. wir müssen von ihnen so selbstverständlich und ohne Zweifel überzeugt sein, dass kein Zwang notwendig ist, um uns dazu zu bringen, sie einzuhalten.6 Parsons sieht die Funktion der Schule in der „Entwicklung von Bereitschaften und Fähigkeiten der Individuen“ zu „ihrer späteren Rollenerfüllung“7 und begründet, warum speziell die Schule diese Schlüsselfunktion hat: Nach seinem Modell ist die Gesellschaft eine Pyramide, in der die Menschen mit guten Leistungen ‚oben‘ sind und die mit weniger guten ‚unten‘. Durch den Selektionsprozess, der in der Schule stattfand, haben die Menschen das Leistungsprinzip verinnerlicht. Wenn sie die Schule durchlaufen haben, sind sie überzeugt, dass ihr Status gerecht und verdient sei, denn jeder habe in der Schule die gleiche Chance gehabt, so dass ihre gesellschaftliche Stellung ihrer Verantwortung zuzuschreiben sei.8

Eine Parallele zur Funktion von Schule lässt sich in Bezug auf die These ziehen, weshalb seit 150 Jahren unvermindert am Gefängnis festgehalten werde, obwohl es sich „sehr bald (…) als eine große Niederlage der Strafjustiz erwies“ (340). Dieser „Widerspruch“ erweist sich laut F. als „Folgerichtigkeit“, wenn man annimmt,

daß das Gefängnis und überhaupt die Strafmittel nicht dazu bestimmt sind, Straftaten zu unterdrücken, sondern sie zu differenzieren, sie zu ordnen, sie nutzbar zu machen; (…) weil die von der Justiz durchgesetzte Klassierung der Gesetzwidrigkeiten Herrschaftsmechanismen unterstützt. (350 f.)

Obwohl auch die Pädagogisierung der Strafen als „normierende Sanktion“ (229), als „Programme zur Besserung der Delinquenten“ (349), „nicht zur Verminderung der Kriminalität beiträgt“ (340), sondern sich letztlich als „Mechanismus zur Verfestigung der Delinquenz“ erweist (349), wird sie trotzdem „seit anderthalb Jahrhunderten“ als „Heilmittel verschrieben und angewandt“ (346). In einer dpa-Meldung von April 2019 „erklärte Justizminister Georg Eisenreich (CSU)“: „Mit einer sinnvollen Beschäftigung werden die Gefangenen an einen geregelten Tagesablauf und an ein auf eigener Arbeit aufgebautes Leben gewöhnt“.9 Auch im 21. Jahrhundert zeigt sich, wie recht F. hatte, als er schrieb, dass sich „Wort für Wort von einem Jahrhundert zum andern dieselben Grundsätze und Vorschläge wiederholen.“ (348) Ein aktuelles Beispiel für das, was F. mit Normierungs- und Normalisierungsmacht bezeichnete und in der Rhetorik als Stilmittel der Repetitio bekannt ist: Eine ‚Wahrheit‘ immer und immer wieder zu wiederholen, erhöht die Wahrscheinlichkeit ihrer Geltung. Die Folgerung liegt nahe, dass die Rhetorik primär den Nutzen hat, den Glauben an die Funktionalität von Gefängnissen zu festigen und auf diese Weise die Strukturen zu stabilisieren.

Übertragen auf das Schulsystem ließe sich sagen, dieses erzeuge mit seiner explizierten Funktion der Verbesserung der Chancen(-gleichheit) gleichzeitig die Akzeptanz der Ungleichheit - und somit die gesellschaftliche Ruhe und Ordnung.

Auf die Institution Schule und die „Dressur der Schüler“ (214) geht F. in Überwachen und Strafen auch direkt ein. Der Prüfung widmet er einen eigenen Abschnitt im Kapitel „Die Mittel der guten Abrichtung“: „jenem kleinen Verfahrensschema, das eine solche Verbreitung hat (von der Psychiatrie bis zur Pädagogik, von der Diagnose der Krankheiten bis zur Überprüfung von Arbeitskräften)“ (238 f.). Die Prüfung vereint in sich die Funktionen der Überwachung, Sanktion, Disziplinierung, Erfassung, Erkenntnis und Klassifizierung.

In der von de la Salle gegründeten Schule der „christlichen Schulbrüder“ war es vorgesehen, „daß ihre Schüler jeden Tag eine Prüfung machen“. Einen ähnlichen Rhythmus haben heute in den allgemeinbildenden Schulen die Kurzkontrollen. Ein wesentliches Element der Prüfung ist, dass sie „sich nicht damit begnügt, eine Lehrzeit abzuschließen; vielmehr ist sie eines von deren ständigen Elementen und begleitet sie in einem dauernd wiederholten Machtritual.“ (240) Essentiell ist weiterhin, dass „die Prüfungsverfahren an ein System der Registrierung und Speicherung von Unterlagen angeschlossen“ sind (243 f.). Mit ihrer Hilfe wird aus jedem Individuum ein „Fall“, den man „beschreiben, abschätzen, messen, mit andern vergleichen kann (…); der Fall ist aber auch das Individuum, das man zu dressieren oder zu korrigieren, zu klassifizieren, zu normalisieren, auszuschließen hat usw.“ (246) Die Prüfung leistet gleichzeitig eine „objektivierende Vergegenständlichung und subjektivierende Unterwerfung“ des Individuums (247). Anders als in der Feudalgesellschaft ist in der Disziplinargesellschaft der gesellschaftliche Stand nicht angeboren, sondern nach dem Durchlaufen dieses Prüfungssystems „erhält (…) jeder seine eigene Individualität als Stand zugewiesen“. Laut F. steht die Prüfung „im Zentrum der Prozeduren, die das Individuum als Effekt und Objekt von Macht, als Effekt und Objekt von Wissen konstituieren.“ (247) „Die Überlagerung der Machtverhältnisse und der Wissensbeziehungen erreicht in der Prüfung ihren sichtbarsten Ausdruck. Auch hier handelt es sich um eine Errungenschaft des klassischen Zeitalters“. (238)

Die besondere Beziehung des Wissenssystems zur Macht, den „Macht/Wissen-Komplex“ (39), beschreibt F. so:

[Es] ist wohl anzunehmen, daß die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert. (39)

Nach F.s Verständnis ist Macht weder etwas nur in anonymen Strukturen Verfestigtes, noch besitzen einzelne Akteure die Handlungsmacht. F. ging es darum, die historische Gewordenheit und das kontinuierliche Werden von Strukturen zu untersuchen: ihre „Historizität“10. F. lehnt eine dichotome Vorstellung von Mächtigen auf der einen und Machtlosen auf der anderen Seite ab. „Diese Macht ist nicht so sehr etwas, was jemand besitzt“, wenngleich sie in bestimmten Situationen von bestimmten Menschen ausgeübt wird, „sondern vielmehr etwas, was sich entfaltet“ und von allen, den sogenannten ‚Herrschenden‘ wie den ‚Beherrschten‘ getragen und „gelegentlich erneuert wird.“ (38) F. spricht von einem „Beziehungsnetz“ (228) und prägt den „Begriff einer grundsätzlich relationalen, lokalen und zugleich produktiven Macht, die ebenso von ‚unten‘ kommt, wie sie unausweichlich umfassend ist“11. In diesem Sinne sind wir alle Agenten der Macht.

Die Disziplinen und das Panopticon

Das Ergebnis der großen Transformation und Kern der neuen Strafform ist also die Einführung der Disziplin in den Anstalten. Das Gefängnis wird zu einer Disziplinarinstitution. Das Wesen der Disziplin beruht auf der Verhaltenssteuerung durch Konditionierung über Signale (214 ff.), es ist die „Kunst der ‚guten Abrichtung‘“ (220). F. spricht vom „dressierten Körper“ (170), den „gelehrigen Körpern“ wie er das Kapitel überschreibt, in dem er den Drill mikroskopisch untersucht, mit dem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus Bauern Soldaten „fabriziert“ wurden (173 f.). Die radikale Veränderung ist

die Durchführungsweise: sie besteht in einer durchgängigen Zwangsausübung, die über die Vorgänge der Tätigkeit genauer wacht als über das Ergebnis und die Zeit, den Raum, die Bewegungen bis ins kleinste codiert. Diese Methoden, welche die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte ermöglichen und sie gelehrig/nützlich machen, kann man die ‚Disziplinen’ nennen. (175)

F. zitiert minutiöse Beschreibungen der Operationen des Marschierens und des Schönschreibens, jede Tätigkeit wird in ihre kleinsten Einheiten zerlegt, so dass diese mit Hilfe von Befehlen für eine größere Gruppe von Menschen wie Soldaten oder Schüler präzise und im Gleichschritt dirigiert werden können (194 ff.).

Neu ist also die minutiöse, ins Infinitesimale gehende Verfeinerung des Details, die nun durch immer präzisere Instrumente, Techniken und Daten möglich wird; die es ermöglicht, von einer Erfassung zu träumen, in der einem nicht „das kleinste Detail entgehen könnte“ (181). Eindrücklich beschreibt F. die Entdeckung des Details als Basis der Disziplinartechnologien, die „Kleinlichkeit“ ist der Charakter dieser Unterwerfungstechnik (178 ff.). Die Disziplinen eignen sich für Soldaten, Schüler, Arbeiter, Arme, Kranke, Wahnsinnige und Häftlinge. Nachdem ihre vielseitige Einsetzbarkeit entdeckt wurde, sind sie „zu allgemeinen Herrschaftsformen geworden“ (176) und betreffen die ganze Bevölkerung. „Man findet sie (…) in den Kollegs (…) den Elementarschulen, (…) im Spital (…) und Militärwesen“ (177). Schließlich werden die Disziplinen noch auf die Internate und Fabriken übertragen (181 f.).

Trotz der detailliert geplanten, methodisch gleichgeschalteten Behandlung der Subjekte bezeichnet F. die Disziplinen als Verfahren der Individualisierung, da sie immer verknüpft sind mit Registrierung, Vergleich und Klassifizierung der Individuen (185 f.). „Die Disziplin ist die Kunst des Ranges“ (187). „In dieser Mikro-Ökonomie einer pausenlosen Justiz vollzieht sich die Differenzierung – nicht der Taten, sondern der Individuen selber“.

„Die Anordnung nach Rängen und Stufen“ ist selbst „Belohnung oder Bestrafung“ und „übt einen ständigen Druck auf [die Schüler] aus, damit sie sich alle demselben Muster unterwerfen (…) damit sie sich alle gleichen.“ (234 f.) Hier zeigt sich die in Abschnitt 2.1.1 angesprochene janusköpfige Figur: Das Differenzieren erweist sich als Werkzeug der Homogenisierung. Das differenzierende Strafsystem „wirkt normend, normierend, normalisierend“ im Unterschied zur Strafjustiz des Ancien Régime, die „einfach den Gegensatz zwischen dem Erlaubten und Verbotenen zur Geltung bringt; die nicht homogenisierend wirkt, sondern verurteilend ein für allemal entscheidet und scheidet.“ (236, Hervorh. i. Orig.)

Ebenfalls diametral entgegengesetzt zum „Schauspiel“ des Bestrafens dieser Zeit arbeitet die disziplinarische Methode diskret: Der Souverän musste sich in seinem Triumph zeigen.

Ganz anders die Disziplinarmacht: sie setzt sich durch, indem sie sich unsichtbar macht, während sie den von ihr Unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt. In der Disziplin sind es die Untertanen, die gesehen werden müssen, die im Scheinwerferlicht stehen, damit der Zugriff der Macht gesichert bleibt. Es ist gerade das ununterbrochene Gesehenwerden, das ständige Gesehenwerdenkönnen, … was das Disziplinarindividuum in seiner Unterwerfung festhält. (241)

Die Subjekte, die genauestens beobachtet, beschrieben, geprüft, klassifiziert und verglichen werden, werden durch diese Techniken zu Objekten. Die Sichtbarmachung „hat nichts mehr mit Heroisierung zu tun“, ebenso wenig zielt sie auf die Achtung und Förderung der Vielfalt der Individuen, wie es heute rhetorisch ausgedrückt wird, sondern ist nach F. Voraussetzung für die perfektionierte Ausnutzung der Körper. Diese Operationen, mit denen Verhalten gleichzeitig beobachtet sowie ab- und ausgerichtet wird, beschreibt F. mit der wiederkehrenden Formulierung der „objektivierenden Vergegenständlichung und subjektivierenden Unterwerfung.“ (247)

Spezifisch ist der demokratisch wirkende Charakter der Disziplinen: Die Überwachung wird von Gleichgestellten übernommen: Es sind keine Herren, sondern „Angestellte, Aufseher, Kontrolleure, Vorarbeiter“ (225 f.), deren Überwachungsaufgaben zunehmend „mit pädagogischen Rollen gekoppelt“ werden. „Dieselbe Entwicklung findet in der Umgestaltung des Elementarunterrichts statt: die Überwachung wird zu einer eigenen Aufgabe und zugleich in das Erziehungsverhältnis integriert.“ Entscheidend ist, dass sie von Peers übernommen wird: „[U]nter den besten Schülern [wird] eine Reihe von ‚Offizieren‘ ausgewählt“. F. zitiert eine beeindruckende Aufzählung von Rollen: „Intendanten, Beobachter, Monitoren, Repetitoren, Vorbeter, Vorschreiber, Tintenmeister, Almosenmeister, Visitatoren“ bekommen akribisch detaillierte Aufgaben und werden auf diese Weise selbst diszipliniert. (227 f.) Mit der Demokratisierung und Verschmelzung von Funktionen werden die Machtmechanismen unsichtbarer, diskreter, umfassender.

Die zur Architektur gewordene Idee der Disziplinen ist das „Panopticon“. Jeremy Bentham gilt als der Erfinder dieses idealtypischen Modells einer Disziplinaranstalt, in der die

Architektur, nicht mehr bloß wie der Prunk der Paläste dem Gesehenwerden oder die Geometrie der Festungen der Überwachung des äußeren Raumes dient, sondern der inneren, gegliederten und detaillierten Kontrolle und Sichtbarmachung ihrer Insassen.

Die Erziehungsfunktion, die Disziplinierung ist in die Architektur integriert, die „Mauern“ sind das „Instrument zur Transformation der Individuen“, ihre Anonymität ist die Unterwerfungstaktik. (222) Der Originaltitel seines 1791 veröffentlichten Buches lautete:

Panopticon; or, the Inspection House: (…) in which Persons of any Description are to be kept under Inspection; and in particular to Penitentiary-Houses, Prisons, Houses of Industry, Work-Houses, Poor-Houses, Manufacturies, Mad-Houses, Lazarettos, Hospitals, and Schools (258).

Das Panopticon ist vielseitig und soll je nach institutioneller Funktion als „Spitalbau (...) ein Heilmittel“, als „Schulgebäude ein Dressurmittel“ sein (222 f.), während die Architektur der großen Werkstätten und Fabriken auf die Steigerung der Produktionskraft angelegt ist (225 f.).

Kern der panoptischen Idee ist, dass immer weniger Personen immer mehr Personen beobachten und kontrollieren können, weil diese sich wiederum gegenseitig nicht sehen, ablenken oder gar aufwiegeln können und sich niemals sicher sein können, ob sie selbst gerade gesehen werden: „Der perfekte Disziplinarapparat wäre derjenige, der es einem einzigen Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen.“ (224)

Vor dem Gegenlicht lassen sich vom Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes genau ausnehmen. Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar. (257)

Die Erfindung des Panopticons war „deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert und entindividualisiert“ (259), während die Unterworfenen identifiziert und individualisiert werden. Die Disziplinarmacht verschmilzt mit den Strukturen, wird anonym, bis zu dem Punkt, dass sie vollständig unsichtbar und allgegenwärtig werden kann. Im Panopticon sollen die Insassen lernen, dass „Mauern furchterregend sind und der Mensch gut ist.“ Die physische Konfrontation wird auf die Architektur übertragen. Bei den wenigen geplanten Kontakten mit Inspektoren und Wärtern sind diese angehalten, „wohlwollend“, „mild und mitleidend“ zu sein. (306)

Eine wirkliche Unterwerfung geht mechanisch aus einer fiktiven Beziehung hervor, so daß man auf Gewaltmittel verzichten kann, um den Verurteilten zum guten Verhalten, den Wahnsinnigen zur Ruhe, den Arbeiter zur Arbeit, den Schüler zum Eifer (…) zu zwingen. (260)

Von den Disziplinarinstitutionen zur Disziplinargesellschaft

F.s zentrale These, die im Zentrum seiner „Genealogie der modernen Gesellschaft“ (286) steht, ist die Übertragung der panoptischen Idee auf die Gesamtgesellschaft, die mit dem Erfolg und der Ausbreitung der Disziplinarinstitutionen im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts begonnen hat. Wie gezeigt wurde, bestand der „Erfolg‘ der Anstalten nicht in der Vermeidung von Verbrechen und der Besserung der Verbrecher. Wichtig ist nicht, dass der Einzelne sich bessert, nicht einmal, dass sein Schicksal präventiv wirkt, sondern wichtig, ist, dass er sich kontrollierbar macht, dass die Subjekte erfasst und klassifizierbar sind und es ein auf diese Weise überschaubares, berechenbares, homogenes und letztlich produktives Delinquentenmilieu gibt, von der viele Gesellschaftsbereiche profitieren und das die Gesamtgesellschaft stabilisiert. Noch in der Widerständigkeit tut der Unterworfene was er soll.

Eine solchermaßen erfolgreiche Diszplinarinstitution kann auch für andere Bevölkerungsgruppen genutzt werden, kann und soll sich „wirklich in jede Funktion integrieren (Erziehung, Heilung, Produktion, Bestrafung)“. Das „panoptische Prinzip“ soll nicht mehr nur an „bestimmten, relativ geschlossenen Orten“ disziplinieren, sondern „die Gesellschaftskräfte steigern“ (267), die Macht muss wertschöpfend (281) sein und darf sich immer weniger repressiv zeigen. Dies ist nur „möglich, wenn die Macht ohne Unterbrechung bis in die elementarsten und feinsten Bestandteile der Gesellschaft eindringen kann und wenn sie auf die jähen, gewalttätigen und lückenhaften Verfahren der Souveränität verzichtet.“ F. schreibt:

(…) ein die Gesamtgesellschaft lückenlos überwachendes und durchdringendes Netzwerk zu machen, ist der Traum Benthams. Das Panopticon liefert die Formel für diese Verallgemeinerung. Es programmiert auf der Ebene eines einfachen und leicht zu übertragenden Mechanismus das elementare Funktionieren einer von Umverteilungsmechanismen vollständig durchsetzten Gesellschaft. (268)

So kommt es zur parallelen Entwicklung der Institutionalisierung der Lebensläufe für ‚jedermann‘ und der Desinstitutionalisierung der Disziplinarmacht, indem sie die Anstalten verlässt und allgegenwärtig im gesamten Lebenslauf jedes Einzelnen wirkt. F. veranschaulicht das an einer Reihe von Beispielen: Die Schule muss „nicht einfach gelehrige Kinder heranbilden; sie hat auch zur Überwachung der Eltern beizutragen“. Die Soziale Arbeit bzw. ihre Vorformen wie die „religiösen Gruppen und Mildtätigkeitsvereine“ beschreibt er als „Kontrollpunkte (...), die in der Gesellschaft verstreut sind, [aus denen] die Disziplinarprozeduren ausschwärmen“. (271 f.) F. zitiert den Arzt und Politiker Moreau de Jonnès aus dem Jahr 1846: „‚Unsere Wohlfahrtseinrichtungen bilden ein wunderbar abgestimmtes Ganzes, das den Bedürftigen von der Wiege bis zur Bahre nicht einen Augenblick ohne Unterstützung läßt‘“ (388) - und ohne Beobachtung, wie man ergänzen könnte. Dieselbe Entwicklung wird auch im Polizeiapparat vollzogen, der nicht mehr nur der Verfolgung von Verbrechern dient, sondern der allgemeinen Disziplinierung und präventiven Kontrolle, ein Apparat, dem gegenüber sich ‚jedermann‘ jederzeit auszuweisen hat, „der mit dem gesamten Gesellschaftskörper koextensiv ist“. (274)

Die solchermaßen desinstitutionalisierte Disziplin ist auch die privatisierte Disziplin,

(…) so wird eines Tages zu zeigen sein, wie sich die innerfamiliären Beziehungen, vor allem in der Zelle Eltern/Kinder, ‚diszipliniert‘ haben, indem sie seit dem klassischen Zeitalter äußere Modelle (schulische, militärische, dann ärztliche, psychiatrische, psychologische Modelle) übernommen haben, wodurch die Familie zum Hauptort der Disziplinarfrage nach dem Normalen und Anormalen geworden ist (277).

In der modernen Gesellschaft wird demnach, so F.s These, das Gefängnis an Bedeutung verlieren. „Die Macht wird (…) beständiger, tiefer, endgültiger und anpassungsfähiger werden“ (260 f.), indem sie verinnerlicht wird. Fast poetisch beschreibt F. Wesen und Wirkung der Disziplinen und des „‚Panoptismus‘“ (277): „Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er.“ Die „‚Seele‘ (…) ist selber ein Stück der Herrschaft“. (42)

 

1 Michel Foucault (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 1. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp. Im Folgenden werde ich für Zitate aus diesem Buch den Kurzbeleg auf die Seitenangabe in Klammern verkürzen, da sehr viele Zitate (und ausschließlich aus dieser Ausgabe) angeführt werden.

2 Um 1900 heilig gesprochen, gilt als Schutzpatron der Lehrer. Vgl. URL: https://www.domradio.de/themen/soziales/2019-04-07/vor-300-jahren-starb…

3 Heinz-Elmar Tenorth (2008): Geschichte der Erziehung, Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. 4., erw. Aufl. Weinheim und München: Juventa. S. 78.

5 Vgl. Baumgart, F. (Hrsg.) (2004): Theorien der Sozialisation. Erläuterungen, Texte, Arbeitsaufgaben. 3., durchges. Aufl. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. S. 33 und S. 84.

6 Ebd. S. 32 f.

7 Vgl. Parsons, T. (1959): Die Schulklasse als soziales System. In: Baumgart, F. (Hrsg.), a.a.O. S. 99.

8 Vgl. Ebd. S. 101 f.

9 SZ, Nr. 98, 27./28.04.2019.

10 Vgl. Philipp Sarasin (2005): Michel Foucault zur Einführung. 6., ergänzte Aufl. Hamburg: Junius. S. 22.

11 Vgl. Ebd. S. 157.