Aus: Annemarie Pieper, Zarathustra als der Verkünder des Übermenschen. In: Entdecken und Verraten. Zu Leben und Werk Friedrich Nietzsches. S. 243 ff.
Albert Camus‘ (…) grandiose Interpretation des Mythos von Sisyphos auf der Folie der absurden Befindlichkeit des modernen Menschen scheint mir eine Möglichkeit zu sein, wie sich Nietzsches Konzept der ewigen Wiederkehr des Gleichen mit der Idee des Übermenschen als Inbegriff von Sinnhaftigkeit verbinden läßt. Das Problem des Sisyphos besteht ja darin, daß sein Wälzen des Felsblocks auf einen Berg, von dessen Gipfel der unter äußersten Mühen hochgestemmte Brocken immer wieder herabrollt, eine absolut sinnlose Tätigkeit ist. Obwohl Sisyphos eine in sich geschlossene, gleichsam kreisförmige Bewegung vollzieht, indem er den Berg unablässig hinauf- und wieder herabsteigt, gelingt es ihm nicht, darin einen Sinn einzuschließen, und zwar so lange nicht, als seine Vorstellung von Sinn mit dem Liegenbleiben des Steins oben auf dem Gipfel verknüpft ist. Solange er den Sinn statisch auffaßt als ein feststehendes Ziel am Ende eines linear dorthin führenden Weges, muß Sisyphos verzweifeln, da sein Hoffnung jedesmal, wenn er auf dem Gipfel angelangt ist, wieder zunichte gemacht wird und ihm nichts anderes übrig bleibt, als trostlos, ohne Sinn wieder ins Tal zurückzukehren. In alle Ewigkeit wird er, dem als Halbgott nicht einmal wie den Sterblichen das Ende der nutzlosen Plackerei durch den Tod in Aussicht gestellt ist, die Wiederkehr des Sinnlosen erleben. „Wenn die Bilder der Erde zu sehr im Gedächtnis haften, wenn das Glück zu dringend mahnt, dann steht im Herzen des Menschen die Trauer auf: das ist der Sieg des Steins, ist der Sein selber. Die gewaltige Not wird schier unerträglich. Unsere Nächte von Gethsemane sind das.“ (S. 100)
Aber Camus läßt seine Version des Mythos von Sisyhpos mit dem Satz enden: „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.“ (S. 101) Woher kommt dieses Glück, das doch Indiz für eine geglückte Sinnstiftung ist? Von Nietzsche her könnte man sagen, daß Sisyphos die Idee des Übermenschen entdeckt und den Übermenschen als Sinn seines Lebens verwirklicht hat. Der erste Schritt besteht darin, daß er die Götter, die dieses unmenschliche Schicksal über ihn verhängt hatten, abschafft: Er „vertreibt aus dieser Welt einen Gott, der mit dem Unbehagen und mit der Vorliebe für nutzlose Schmerzen in sie eingedrungen war, [und] macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muß. Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.“ (S. 100)
Auch Sisyphos sagt also: Gott ist tot. Und damit verändert sich die Perspektive, aus welcher er seine Tätigkeit beurteilt. War es zuvor die Perspektive eines allen Sinn generierenden, transzendenten Gottes, aus der ihm als seine Praxis als durch und durch minderwertig erschien, da sie sich ihm als eine sinnlose Iteration erfolgloser Überwindungen eines Steins darstellte, so betrachtet er nach der Verbannung der Götter aus seinem Universum sein Wirken mit neuen Augen. (…) Sisyphos, so sagt Camus, „ist seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels.“ (S. 99)
Die ewige Wiederkehr des vom Berg herabrollenden Steins ist für ihn zum bejahten, selbst gewollten Fatum geworden. Dies zeigt sich vor allem darin, daß der Abstieg vom Berg für ihn eine andere Bedeutung bekommen hat. War dieser für ihn zuvor Ausdruck höchster Frustration, weil es lediglich galt, einen erneuten Fehlschlag zu konstatieren und sich einem wiederum vergeblichen neuen Anlauf zuzuwenden, so begreift er jetzt die Rückkehr zum Stein als die Kehrseite der Dialektik, durch die sich sein Glück vollendet. Das Glück des Sisyphos besteht darin, daß er den Stein, anstatt ihn als einen sein Glück verhindernden Fremdkörper abzulehnen, als seine selbst gewählte Aufgabe übernimmt und über den Stein zu einem neuen Selbstverhältnis gelangt. Mittels des Steins gelingt es ihm, sich als ein seiner selbst mächtiges, seinen eigenen Sinn hervorbringendes Wesen wahrzunehmen. Der Stein als solcher ist unüberwindlich, aber das Verhältnis zu ihm kann sich ändern. (…) nachdem Sisyphos die seine Qual verursachende lineare Zielvorstellung, die seine Bemühungen als immer wieder gescheiterte Anläufe zu einer vergeblichen, da leer in sich zurückschlagenden Selbstfindung machte, überwunden hat, fallen ihm Ziel und Weg zusammen. Es gibt keine Zäsur mehr zwischen dem Weg hinauf und dem Weg hinab. Für Sisyphos hat sich der Kreis geschlossen, in welchem sich der Übermensch als der Sinn seines Lebens zeigt. Das Schaffen und Gehen des Weges ist selbst der Sinn (…)
Was für Zarathustra die These der ewigen Wiederkehr des Gleichen so schrecklich machte, daß er den Übermenschen erfand, um sie zu ertragen, ist die Einsicht, daß der Kreislauf des Werdens durch keine menschliche Anstrengung, sei sie auch noch so groß, jemals zu überwinden ist und zu keinem Zeitpunkt in einem dauerhaften, vollkommenen Sein zum Stillstand gelangt. Mit Camus gesprochen: der Stein wird niemals oben liegen bleiben. Wenn aber die Prozessualität Prinzip alles Lebendigen ist, dann folgt daraus, daß eine Höherentwicklung der Menschheit insgesamt nicht möglich ist, denn es wird ja alles wiederkehren, auch die Nullpunktexistenz des letzten Menschen, dem es zu beschwerlich ist, über sich hinaus zu schaffen. (…)
Auch wenn es der Menschheit als ganzer nicht gelingt, sich selbst zu überwinden, so wird es doch immer einzelne geben, große Individuen, die für sich selbst, gleichsam im kleinen, das ins Werk setzen, was im großen unerreichbar ist: die Existenzform des Über-sich-Hinaus. (…) Der alte metaphysische Anspruch einer alles umfassenden Sinntotalität wird zurückgenommen in die Immanenz individuellen Selbstwerdens, das sich in sich selbst vertikal und horizontal übersteigt und dabei das durch den Tod Gottes offenbar gewordene Sinnvakuum mit einem neuen Sinn füllt, einem Menschensinn. (…) Das Glück des Menschen, dem es geglückt ist, seinem Leben einen unüberbietbaren Sinn zu geben, läßt ihn ausrufen: „War das das Leben? Wohlan! Noch Ein Mal!“ (KSA 4, S. 199)