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Plädoyer für eine Kritische Menschenrechtsbildung
Warum hat die Schule, wenn sie pausenlos »zu« Demokratie, Menschenwürde, Kreativität, »zum« Frieden, »zur« Gleichberechtigung der Geschlechter, »zur« Solidarität etc. »erzieht«, die damit angezielte Vollkommenheit des Menschen nicht endlich zustandegebracht?1
Die Beschäftigung mit den Menschenrechten und der Menschenrechtsbildung löste in mir Unbehagen, gelegentlich Empörung aus, beispielsweise bei der Analyse der Strukturen der Vereinten Nationen und ihrer Organe wie der UN-Menschenrechtskommission und führte mich zu der Fragestellung, warum Jahrzehnte der Bildungsarbeit in diesem Feld – analog der Holzkampschen Frage – so wenig Wirkung zeigen und welche Folgerungen daraus für die Menschenrechtsbildung für Kinder und Jugendliche gezogen werden können.
Menschenrechtsbildung soll – entsprechend ihrer drei Hauptziele: Wissen, Einstellung, Handlungskompetenzen2 auf drei Ebenen vermittelt werden: „Bildung über, durch und für Menschenrechte.“3 Gelingt dies, werden hohe Erwartungen in sie gesetzt: So soll sie anderem „Demokratie, Entwicklung, soziale Gerechtigkeit, friedliches Zusammenleben, Solidarität und Freundschaft zwischen Menschen und Nationen“ fördern und „aktives bürgerschaftliches Engagement“ stärken.4
Eine in der Hausarbeit ausgeführte These lautet, dass solche Ziele nur erreicht werden können, wenn in der ‚Bildung über Menschenrechte‘ die BürgerInnen – neben den Potentialen - auch über die Grenzen und das Versagen bestehender „Institutionen, Organisationen, Dokumente und Akteure“ aufgeklärt werden sowie über die „Ursachen der Differenz von Norm und Wirklichkeit, (…) die Ursachen von Menschenrechtsverletzungen.“5
Denn trotz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), verabschiedet im Dezember 1948, trotz des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) sowie des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR), gibt es auch seit Realisierung dieses „Meilensteins in der Entwicklung der Menschenrechtsidee“6 zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, möglicherweise sogar mehr Kriege und Flüchtlinge als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit7.
Wie sieht es mit den völkerrechtlich verbindlichen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates aus? Ein strukturelles Problem ist das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder, welches sie als die UN-Gründungsmitglieder, die siegreich aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgingen, beanspruchen, und das auch in vielen drastischen Fällen von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen tatsächlich angewendet wurde und wird: Zwischen 1945 und 2008 machten sie insgesamt 261-mal von ihrem Vetorecht Gebrauch, wovon der überwiegende Teil (124) von Russland, resp. UdSSR eingebracht wurde.8 Ein dramatisches Beispiel der jüngeren Zeit sind Russlands regelmäßige Blockaden von Sanktionen gegen Syrien wie zuletzt 2017 gegen die Weiterführung der Untersuchung von Giftgasangriffen.9 KritikerInnen sprechen deshalb davon, dass „der eigentlich geächtete Einsatz von Giftgas durch die Hintertür und durch das Versagen des UN-Sicherheitsrates legitimiert werde“.10 Das ist ein heftiger Vorwurf, denn dann lässt sich nicht mehr argumentieren, dass die Instrumente der UNO zwar verbesserbar sind, aber zumindest bei dem, was sie erreichen, positiv zu bewerten sind. Sondern dass das, was ursprünglich gut gemeint war, sich nun ins Gegenteil verkehrt.
Im Kapitel ‚Bildung durch Menschenrechte‘ geht es um die Frage, wieso trotz der allgegenwärtigen Rhetorik von „Respekt, Diskriminierungsfreiheit, Partizipation“, trotz entsprechender Zielsetzungen in Lehrplänen und Schulgesetzen, trotz des theoretischen Wissens um die Notwendigkeit einer entsprechenden Lernumgebung, die unter anderem zu „kritischem Denken“ ermuntert, „die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit (…), Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen (…) und (…) die Wahrung des Friedens“11 immer noch so fern scheint.
Das Grundproblem – in der Fachliteratur seit langem und immer wieder kritisiert, im Bildungssystem jedoch kaum umgesetzt - besteht darin, dass sich „Werte wie Würde, Toleranz und Achtung für andere sowie Fähigkeiten wie Zusammenarbeit, kritisches Denken und das Eintreten für die eigenen Rechte nicht in traditioneller Art und Weise unterrichten lassen.“12 Eine Schwierigkeit der MRB steckt in der Problematik, dass eine „angemessene Umsetzung dieser Forderung [die Ermunterung zu kritischem Denken] aber zwangsläufig auch zu einer deutlichen Kritik an Deutschland und anderen westlichen Staaten führt.“13 Grundlegende Kritik an der eigenen Nation, am eigenen Gesellschaftssystem gehört aber in der Regel weder zu in Schulgesetzen formulierten Zielen noch zur alltäglichen Praxis im Unterricht. Auch in den gängigen Bildungsmaterialien zur MRB wird diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit kaum problematisiert, finden sich kaum gesellschafts- und regierungskritische Inhalte. Im Compasito Handbuch widmet sich beispielsweise nur ein winziger Absatz mit drei Sätzen der Kritik am Menschenrechtsschutzsystem.14 Durch den Schwerpunkt in manchen Publikationen könnte der Eindruck entstehen, dass Menschenrechtsverletzungen individualisiert werden, indem mit Kindern geübt wird, wie sie gewaltfrei miteinander umgehen können.
Da die im formalen und non-formalen Bildungsbereich benutzten Materialien in der Regel von Institutionen erstellt werden, die von der Bundesregierung bzw. im Rahmen von Programmen der Bundesministerien finanziert werden, oder wie die Bundeszentrale für politische Bildung eine Behörde ist, die dem Bundesministerium des Innern unterstellt ist, ist eine weitgehende Konformität mit der „nationalen und internationalen Politik“15 erwartbar. Dementsprechend wird in vielen Texten zur MRB als selbstverständliche Prämisse, wie ein Axiom, wie als ein nicht anders denkbares (Natur-)Gesetz die gegenseitige Bedingtheit von Demokratie – Menschenrechten – Frieden konstatiert16. Wie sollte jedoch ein sich in der Menschheitsgeschichte „im Stadium der frühen Kindheit“17 befindliches Konzept das einzig mögliche sein, damit Menschen in Frieden und Würde zusammen leben können?
Im Kapitel ‚Bildung für Menschenrechte‘ wird die These verfolgt, dass Emotionen essentiell sind, um für eine Sache Begeisterung zu entwickeln. Ohne Emotionen – und dazu gehören sicherlich auch Unzufriedenheit und Empörung mit bestimmten Aspekten, die man verändern möchte – entsteht kaum Interesse und Engagement. MRB ohne Interesse und Engagement würde zu einem Beispiel des „widerständigen“ oder „defensiven“ Lernens18. Langeweile und innere Abwehr verhindern das gewünschte Lernergebnis von Engagement und Solidarität.
Auf dieser Ebene gilt es, verständlich zu machen, dass die Menschenrechte und die MRB spannende und herausfordernde Prozesse sind, etwas Nicht-Abgeschlossenes, bei dem es vielleicht mehr Fragen, Probleme und Zweifel gibt als Antworten und Erfolge, ein Prozess, der mitgestaltet werden muss und kann.
So gehört an diese Stelle auch eine ehrliche Aufklärung und Auseinandersetzung mit allen Menschenrechtsverletzungen: mit denen die vor der AEMR und denen, die nach ihr, sozusagen im Lichte der Menschenrechte, geschahen. Die jungen Menschen, wir alle, sind ohnehin Tag für Tag mit diesen Problemen konfrontiert, müssen Tag für Tag die Diskrepanz zwischen Rhetorik und Realität aushalten, zwischen political correctness und rücksichtslosem Handeln.
Anstelle der unhinterfragten Alternativlosigkeit von Menschenrechten und Demokratie passt hier der Zweifel und Aufschrei über all die Menschenrechtsverletzungen, die geschahen und immer noch geschehen, nicht nur in fernen, ‚unterentwickelten’ Ländern, sondern auch bei uns. Ein Weg aus diesem circulus vitiosus könnte darin bestehen, diese Diskrepanz aufrichtig zu problematisieren und die Paradoxie, in der sich die MRB damit grundsätzlich befindet, nicht zu verdecken, sondern zu einem zentralen Bestandteil des Unterrichts zu machen. Im Sinne von Stéphane Hessel, einem von zwölf Autoren, die die AEMR von 1948 verfasst haben19, könnte die Empörung den jungen Menschen Mut und Kraft verleihen, die bisherigen Instrumente in Frage zu stellen, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, eigene kreative Ansätze im Prozess der Menschenrechtsentwicklung zu finden. „Solidarität und Empowerment“20 sind der angegebene Zweck der Bildung für Menschenrechte: „Nachdem er daran erinnert hatte, dass das Motiv der Résistance die Empörung gewesen war, rief Hessel: ‚Findet eure eigenen Motive für Empörung, bringt euch wieder in diesen großen Strom der Geschichte ein!’“21
1Holzkamp, Klaus (1992): Die Fiktion administrativer Planbarkeit schulischer Lernprozesse. URL: http://www.kritische-psychologie.de/texte/kh1992a.html [21.09.2018].
2Vgl. Stellmacher, Jost; Sommer, Gert (2007): Menschenrechtsbildung – eine gesellschaftspolitische Aufgabe. URL: https://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=0502 [21.09.2018].
3Vgl. Reitz, Sandra; Rudolf, Beate (2014): Menschenrechtsbildung für Kinder und Jugendliche. Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.). Berlin. S. 3.
4Vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte (2009): Compasito. Handbuch zur Menschenrechtsbildung mit Kindern. Berlin. S. 25.
5Vgl. Fritzsche, K. P. (2005): Die Macht der Menschenrechte und die Schlüsselrolle der Menschenrechtsbildung. In: Der Bürger im Staat, Menschenrechte, H. 1/2, pp. 64-71. URL: http://www.buergerimstaat.de/1_2_05/macht.htm [30.09.2018].
6Vgl. Kimminich, Otto (1983): Einführung in das Völkerrecht, 2. vollst. überarb. Aufl., München; New York; London; Paris: Saur. S. 359.
7Frankfurter Allgemeine (2018): Zahl der Kriege auf 20 gestiegen. URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/konfliktbarometer-2017-zahl-der-kriege-weltweit-gestiegen-15471806.html [30.09.2018].
Bundeszentrale für politische Bildung (2014): Entwicklung innerstaatlicher Kriege und gewaltsamer Konflikte seit dem Ende des Ost-West Konfliktes. URL: http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54520/entwicklung-innerstaatlicher-kriege-seit-dem-ende-des-ost-west-konfliktes [30.09.2018].
8Vgl. Global Policy Forum: Changing Patterns in the Use of the Veto in the Security Council. URL: https://www.globalpolicy.org/component/content/article/102-tables-and-charts/32810-changing-patterns-in-the-use-of-the-veto-in-the-security-council.html [30.09.2018].
9Vgl. Tagesschau: Wie Russland Syrien-Resolutionen blockiert. URL: http://faktenfinder.tagesschau.de/ausland/veto-russland-un-sicherheitsrat-101.html [30.09.2018].
Vgl. Der Standard: Russland nutzte zum elften Mal Veto gegen Syrien-Resolution. URL: https://derstandard.at/2000077705908/Russland-nutzte-zum-elften-Mal-Veto-gegen-Syrien-Resolution [30.09.2018].
10Vgl. Tagesschau: Russlands elftes Veto. URL: https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-russland-veto-101.html [30.09.2018].
11Vgl. AEMR, Art. 26.2. In: Compasito, a.a.O. S. 308.
12Vgl. Compasito, a.a.O. S. 7.
13Vgl. Stellmacher; Sommer (2007): a.a.O.
14Vgl. Compasito, a.a.O. S. 18.
15Vgl. Stellmacher; Sommer (2007): a.a.O.
16Vgl. Stellmacher; Sommer; Brähler (2006): a.a.O.
17Ebd. S. 19.
18Vgl. Holzkamp, a.a.O.
19Vgl. ARD, Sendereihe ttt vom 16.01.2011, 23:22 Uhr.
20 Vgl. Sabine Achour: Menschrechtsbildung und Wertevermittlung – Wie aus Werten »gutes
Recht« wird. In: Dietmar Molthagen; Thilo Schöne (Hg.) (2016): Lern- und Arbeitsbuch. Lernen in der
Einwanderungsgesellschaft. Bonn: Dietz. S. 119 f. URL: http://dietz-
verlag.de/downloads/leseproben/0484.pdf [21.09.2018].
21Hessel, Stéphane (2010): Empört Euch! Berlin: ullstein. S. 25.