Der stoische Kanon

Wie es sich für eine schöne "philosophia perennis" gehört, findet sich das, was hier ausgehend von Nietzsches Figur der "Ewigen Wiederkehr" und mit Bezug auf indische Philosophie/Spiritualität ausgearbeitet wurde, auch in der Stoa: Vielleicht ist die Formel der "höchsten Bejahung" in der zweifachen Selektion sogar das das Herzstück der stoischen Philosophie. Eine der zentralen Übungen der Sorge um sich. Nein, sogar „mehr als eine in regelmäßigen Abständen ausgeführte Übung, das ist eine ständige Haltung, die man sich selbst gegenüber einnehmen muß“, ist „eine fortwährende Filterung der Vorstellungen“, eine „Prüfung“ der Vorstellungen1:

In Die Sorge um sich schreibt M. Foucault: 
"Wenn eine Vorstellung den Geist überkommt, besteht die Arbeit der Diskrimination, der diákrisis, darin, den berühmten stoischen Kanon auf sie anzuwenden, der trennt zwischen solchen, die nicht von uns abhängen, und solchen, die von uns abhängen; die ersten nimmt man, da sie außer unserer Reichweite sind, nicht auf, empfängt sie nicht, sondern vertreibt sie, da sie nicht Objekte von 'Begehren' oder 'Abneigung', von 'Neigung' oder 'Abscheu'den sollen. Die Kontrolle ist eine Machtprobe und eine Freiheitsgarantie: eine Weise, sich beständig zu versichern, daß man sich nicht an das binden wird, was nicht unserer Herrschaft unterliegt. Beständig über seine Vorstellungen zu wachen oder ihre Kennzeichen zu überprüfen, so wie man eine Münze prüft, heißt nicht - wie es später im christlichen Geistesleben der Fall sein wird -, sich über den tiefen Ursprung der auftauchenden Idee befragen; heißt nicht versuchen, unter der sichtbaren Vorstellung einen verborgenen Sinn zu entziffern; heißt vielmehr, die Beziehung zwischen einem selbst und dem Vorgestellten einzuschätzen, um im Bezug zu sich selbst nur das zu akzeptieren, was von der freien und vernünftigen Wahl des Subjekts ausgehen kann." (S. 88)

Das Schöne an Nietzsches "Ewiger Wiederkehr" und der Parallele in der indischen Philosophie ist jedoch aus meiner Sicht, dass es gerade nicht darum geht, die Vorstellung oder Erfahrung, die einen "überkommt", zu "vertreiben“, sondern sie anzunehmen, sie geschehen zu lassen, vielleicht im "reinen Gewahrsein" oder unserer Annäherung daran, die höchste Bejahung.

Epiktets "Handbüchlein der Moral" ist wohl eine der bekanntesten Anleitungen für diesen stoischen Kanon und die Zitate - hier verknüpft mit der "doppelten Selektion" - berühmt:

Selektives Denken

Worüber wir gebieten und worüber wir nicht gebieten

Wir gebieten über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht. Nicht gebieten wir über unseren Körper, unseren Besitz, unser Ansehen, unsere Machtstellung, und, mit einem Wort über alles, was nicht von uns ausgeht.

Worüber wir gebieten, ist von Natur aus frei, kann nicht gehindert oder gehemmt werden; worüber wir aber nicht gebieten, ist kraftlos, abhängig, kann gehindert werden und steht unter fremden Einfluss.

Denke also daran: Wenn du das von Natur aus Abhängige für frei hältst und das Fremde dein eigen, so wird man deine Pläne durchkreuzen und du wirst klagen, die Fassung verlieren und mit Gott und der Welt hadern. Hältst du aber nur das für dein Eigentum, was wirklich dir gehört, das Fremde hingegen, wie es tatsächlich ist, für fremd, dann wird niemand dich je nötigen, niemand dich hindern, du wirst niemanden schelten, niemandem die Schuld geben, nie etwas wider Willen tun, du wirst keinen Feind haben, niemand wird dir schaden, denn du kannst überhaupt keinen Schaden erleiden.

Wenn du nun nach so hohen Zielen strebst, denke daran, dass du nicht mit nur mäßigem Bemühen nach ihnen greifen darfst, nein, du musst auf manches ganz verzichten, manches vorläufig aufschieben.

(…) Bemühe dich daher, jedem ärgerlichen Eindruck sofort entgegenzuhalten: „Du bist nur ein Eindruck und ganz und gar nicht, was du zu sein scheinst.“ Dann prüfe und begutachte den Eindruck nach (…) der ersten Regel, ob der Eindruck zu tun hat mit den Dingen, über die wir gebieten oder nicht gebieten und wenn er mit etwas zu tun hat, über das wir nicht gebieten, dann habe die Antwort zur Hand: „Es geht mich nichts an.“

Selektives Sein

Verlange nicht, dass das, was geschieht, so geschieht, wie du es wünschst, sondern wünsche, dass es so geschieht, wie es geschieht und dein Leben wird heiter dahin strömen.

Dieselbe Erkenntnis und Formel des Heil-Werdens, des Sich-selbst-Heilens liegt auch Camus' Essay "Das Glück des Sisyphos" zugrunde, von Annemarie Pieper wunderschön in Bezug auf Nietzsches "Ewige Wiederkehr" interpretiert, hier ein Auszug.

1 Vgl. Michel Foucault: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. suhrkamp taschenbuch wissenschaft. S. 86