Ungeimpft und ausgestoßen (Berlin November 2021 - April 2022)

Ich übe für den Alleinsein-Winter. Schon jetzt. Eine Übung für den Gang ins innere Exil kann nicht schaden, sag ich mir. Die Temperaturen sind für die Jahreszeit recht mild. Der Nebel hält sich in der Früh, lichtet sich dann für die Sonne und kommt verlässlich jeden Nachmittag  zurück, wie ich direkt von der Arbeit nach Hause. Es ist gut, dass der Nebel fällt und die Tage schrumpfen. So kann ich nicht weit in die Ferne sehen. Das hilft. Jede Fernsicht wäre für mich eine Qual in diesen Tagen. Das freudige Staunen über allerlei was im Leben geschieht, ist mir in den vergangenen Monaten abhanden gekommen, wie anderen Menschen ein Schirm oder Handschuh. Stets war es das Verausgaben des Staunens, das meinem Leben Leichtigkeit gab. Jetzt muss ich ohne Staunen lernen, mit leichtem Schritt zu gehen. Bei jeder Witterung. Nebelwanderungen, sagen die Dichter, gehören zum Altwerden. Was erstaunt mich daran? Schon in meiner Jugend lernte ich die Verse dazu, ein Lehrer konnte das Gedicht nicht lassen: „Voll von Freunden war mir die Welt, als das Leben licht war, nun da der Nebel fällt, ist keiner mehr sichtbar, wahrlich, niemand ist weise, der nicht das Dunkel kennt, das unaufhaltsam und leise von jedem uns trennt“. Die Verse klangen einst wie Musik in unseren Ohren. Wir mochten einfach den Erzähler vom Steppenwolf. Wir assoziierten dahinter eine Leichtigkeit, nicht die Schwere, an der der Dichter litt. „Born to be wild“ von den Steppenwölfen passte in die Stimmung. Jeder Freund drehte seine Anlage auf, so laut er konnte. Das Klopfen der Nachbarn gehörte dazu und der Fensterruf, macht die Mucke leiser. Die Anlagentürme schrumpften von Jahr zu Jahr, wie mein Bauch breiter wurde. Heute sind die Boxen winzig und der Sound kristallklar. Heute habe ich eine Auswahl auf meinen Festplatten, die zehntausenden CDs entspricht. Grenzenlos die Klangvielfalt. Und dann dieser kreischende Wiederspruch in den Öffentlichen. Wenn schon die Dauerbeschallung der tautologischen Neusprech-Sätze sein muss, dann wünsche ich mir dazwischen zumindest saftige Musikeinlagen. Egal von welcher Stilrichtung. Hauptsache abwechslungsreiche Songs mit originellen Variationen. Die transzendente Gegenwart der Klänge brächte Linderung für die strapazierten Ohren. Musikanten, wo seit ihr!  Am Anfang war das geschriebene Wort von Gott, behauptet ein Apostel, und legte großen Wert auf die eindeutige Auslegung der Schrift. Diesem Heiligen glaube ich sowenig wie den Virus-Beschwörern von heute. Ich habe genug von den geschriebenen und gesprochenen Worten. Ich besinne mich wieder einmal der antiken Denker. Die waren sich sicher: Am Anfang war der Akkord. Die Götter gaben uns die Sphären der Musik um die Grenze der Sprache zu erkennen und den Reichtum der kosmischen Melodien zu erahnen. Physikalisch gesehen gibt es Milliarden möglicher Schwingungen im Weltall. Aber der Kosmos bevorzugt in einer überwältigenden Anzahl solche Schwingungen, das sagen uns die modernen Messinstrumente, die gleichzeitig Tonwerte sind. Tonwerte welche harmonikalen, das heißt musikalischen Sinn, ergeben. Die Erde pendelte sich für ihre tägliche Umdrehung auf einen ganz tiefen Oktavton G ein. Bei einer 24maligen Oktavierung könnten wir ihn auf 194,16 Hz für unsere Ohren hörbar machen. Das Universum besteht eben auf Wohlklang und nicht auf kreischende Dauerbeschallung.

Christiane schreibt mir. Wie geht es dir alter Kollege. Lass uns einmal treffen, ich back uns einen feinen Kuchen. Komm vorbei. Das lass ich mir nicht zweimal sagen. Ich freue mich. Ich fahr zu Christiane hinaus in ihr kleines Dorf. Und ich bin erstaunt, als ich eintrete. Da sitzt eine unserer Kinderärztinnen, die mit uns nie ein persönliches Wort wechselte, wenn wir einmal mit einem Kind in ihre Praxis kamen, um etwa blaue Flecken zu untersuchen, die uns suspekt vorkamen. Wir fragten sie um ihren medizinischen Rat, ob möglicherweise elterliche Gewalt vorliegen könne. Wir besprachen uns dann, falls wir uns der Schläge sicher waren, wie wir gemeinsam dem Jugendamt davon Meldung machen, sie als Ärztin, ich als Psychotherapeut. Die Zusammenarbeit lief stets professionell. Aber distanziert. Die Ärztin war stets kurz angehalten. Die vielen Patienten, wir wüssten doch, sagte sie stets. Christiane und ich nahmen das hin und dachten uns unseren Teil. Und nun? Diese Frau bei Kaffee und Kuchen bei Christiane zuhause? Bevor ich Worte finde, steht die Ärztin auf, reicht mir die Hand und sagt, ich bin Bettina. Schön dich wieder zu sehen, ich darf Sie doch duzen? Ja, ja, sage ich, ich bin Carlo. Ich bin verdutzt. Ich fühl mich überrumpelt. Ich glaube anfangs nicht, was ich höre. Bettina outet sich als Ärztin, die die meisten Verordnungen und Maßnahmen ablehnt. Ich kann es kaum fassen. Welche Verwandlung. Bettina redet einfach weiter. Ich hab dir immer angesehen Carlo, du kommst nicht klar, wie die Rechte von Kindern und Jugendlichen eingeschränkt werden. Nun hat mir Christiane erzählt, du warst in deinem früheren Leben Journalist. Vielleicht kannst du etwas damit anfangen, was ich zu erzählen weiß. Vertraulichkeit kennst du ja. Christiane hat mir viele spannende Geschichten aus deinem Leben erzählt. Bettina ist nicht zu stoppen. Sie erzählt und plaudert, wie ich sie in ihrer Arztrolle nie erlebt habe. Sie spricht ganz offen: Ich bin in einer fürchterlichen Situation, ich bin sicher, die Impfempfehlung ab 6 Jahren wird kommen. Das ist kriminell. Auch ab 12 zu impfen ist unverantwortlich. Diese Impfstoffe wirbeln das gesamte Immunsystem junger Menschen durcheinander. Das mag bei Alten und vorerkrankten Erwachsenen anders sein, bei Kindern ist eine natürliche Herdenprotektion unbedingt zu fördern. Lese selbst Carlo, was in der der Fachzeitschrift für Kinderheilkunde steht. Dieses Ärzteblatt ist nicht kritisch, wenn es um die allgemeinen Virus-Verordnungen unseres obersten Gesundheitschefs geht, erklärt mir Bettina. Ich lese und verstehe nicht an jeder Stelle die medizinische Sprache. Unmissverständlich sind jedoch einige Sätze: „Die Infektionen verlaufen asymptomatisch“. Das heißt, gesunde Kinder und Jugendliche erkranken nicht. „Bisher traten lediglich einzelne Todesfälle bei schwer Vorerkrankten auf“. Eben noch kein einziges Mal bei gesunden Kindern und Jugendlichen. Doch Fälle von Peri- und Myokarditiden „übersteigt die statistisch erwartete Zahl“, die von den Herstellern und Gesundheitsbehörden bei einer Impfung als verträglich angesehen wurden. Es sei „darüber hinaus eher mit einer Untererfassung der Komplikationen zu rechnen“. Es folgen Zahlenkolonnen, die ich nicht verstehe. Du musst sie auch nicht im Detail begreifen, erklärt mir Bettina, die Nebenwirkungsbefunde sind einfach zu hoch für gesunde Kinder. So eine hohe Nebenwirkungsbelastung kann man möglicherweise für ältere Erwachsene in Kauf nehmen, aber niemals für Kinder. An anderer Stelle kann ich lesen, bei den Studien zu Kindern und Jugendlichen, „fehlen allerdings Daten zum Langzeitverlauf, z. B. im Hinblick auf das Risiko, Rhythmusstörungen zu entwickeln“. Ich seufze laut. Nimm die Zeitschriften mit, Carlo und lese sie in Ruhe, wir sehen uns ja nicht zum letzten Mal, hoffe ich. Plötzlich weint Bettina. Das was du im Fachblatt abstrakt lesen kannst, hab ich selbst erlebt. Ein Mädchen kann nach einer Impfung in meiner Praxis nicht mehr gehen. Ich fühle mich schuldig. Ich habe in meinem Leben noch nie so viele Nebenwirkungen dem zentralen Impfstoff- und Arzneimittelinstitut melden müssen, wie in den vergangen Wochen. Das übersteigt meine Kräfte. Beklommen sitze ich da. Christiane nimmt Bettina in den Arm. Ich reiche ein Taschentuch. Dann drücken wir uns alle. So nah fühlte ich mich Christiane in all den vielen Jahren unserer gemeinsamen Arbeit noch nie. Wir schauen uns an und Christiane fasst sich. Nun aber ein Gläschen Wein und Prost auf unsere Familien und unsere Enkelkinder.  Wir reden noch lange an diesem Nachmittag. Manches kleines Geheimnis geben wir uns gegenseitig preis. Als die Nacht anbricht und wir uns verabschieden, sagt Bettina wie selbstverständlich, also dann, bis bald, bei mir zu Hause.

Meine Winter-Phantasien holen mich ein. Da erklärt doch tatsächlich die Vorsitzende des Ethikrats in einer Talkrunde: „Wir müssen aus unterschiedlichen Rohren schießen, alle uns zur Verfügung stehenden Mitteln nutzen, um die noch Unentschlossenen zum Impfen zu bewegen. Nur so werden wir Herr der Lage“. Was für ein militärisches Vokabular auf einmal. Die gleiche Hochschullehrerin mahnt an anderer Stelle eine gendergerechtere Sprache an und spricht im Virus-Zusammenhang  vom Schießen und von Herren, die ihre Macht zeigen sollen. Wie passt das zur Ethik, eine Minderheit an den Pranger zu stellen? Die Universalsündenböcke sind alle Nicht-Geimpften, ein Drittel der Bevölkerung. Die „Unvernünftigen“ und „Verweigerer“ und „Querdenker“ sind an allem schuld, dass die Krankheit nicht ausgerottet wird. Das sagen die selbsternannten Vernünftigen ohne mit der Wimper zu zucken. Ich mache zum großen Teil dafür meine Journalistenkollegen verantwortlich. Ich kann nicht anders. Meine Medienerfahrung sagt mir, so gleichgeschaltet war es nur unter den roten Chiliasten. Egal wohin die Reporter gingen, überall lobten die Bäcker, die LKW-Fahrer, die Studierenden, die Putzkolonnen, die Hochschullehrer, die Musikschaffenden, die Rentner, die Soldaten, den „Kurs der Partei“.  Heute sehe ich Ähnlichkeiten. Wer immer im Radio oder im Fernsehen zu Wort kommt, teilt aus und teilt ein. Einer der mächtigsten Ärztepräsidenten des Landes schießt bereits aus allen Rohren: „Momentan erleben wir eine Tyrannei der Ungeimpften, die über das zwei Drittel der Geimpften bestimmen und uns diese ganzen Maßnahmen aufdrücken“. Wie bitte? Mindestens 40 Prozent der Schwererkrankten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser sind bereits Geimpfte, die trotz zweifacher Durchimpfung das Virus wieder aufschnappten. Diese Zahlen wurden vor einiger Zeit öffentlich. Aber seitdem habe sich das Blatt gewendet, so die offiziellen Gesundheitsstellen. Das Verhältnis habe sich hin zu den Ungeimpften verschlechtert. Deren Zahl an Infizierten und damit an Hospitalisierten steige stetig. Wie exakt, wird verschwiegen. Das gefällt mir nicht. Ich habe Fragen über Fragen: Ist Impfen möglicherweise gar kein Game-Changer? Wer gefährdet gerade wen? Wenn die Impfstoffe wirken, wie kann es Neuansteckungen unter Geimpften geben. Und wenn das Impfen wirkt, dann muss doch ein Geimpfter doch keine Angst vor einem Nicht-Geimpften haben. Er ist ja geschützt. Wenn die Impfstoffe aber nicht so wirken, muss sich dann ein Geimpfter nicht zu gleichen Teilen vor einem anderen Geimpften in Acht nehmen wie vor einem Nicht-Geimpften?  Mein Glaube an Zahlen wird wieder einmal tief erschüttert, als ich die Recherche in jener Zeitung finde, die ich einst wegen ihrer politischen Ausrichtung nicht einmal angefasst hätte. Die Journalisten fanden heraus, wie in zehntausenden Fällen, Infizierten pauschal auf das Konto der Nicht-Geimpften zugeschlagen wurde. Dabei wussten die Statistiker bei mindestens 70 Prozent der infizierten Personen gar nicht, waren die nun geimpft oder nicht. Der Skandal schaffte es in wenige andere Medien. Und eine Entschuldigung für die Manipulation fanden die Gesundheitsbehörden nicht für nötig. Ein Lapsus eben. Ich nehme es auch so hin. Mit wem sollte ich darüber diskutieren? Die einen denken so wie ich, die muss ich nicht überzeugen. Die anderen werden die Manipulation wegwischen als eine Nebensache. Ein Virusvogt zeigt seine Macht. Ihr Ungeimpften, sagt er, stochert nicht in Nebensachen herum, das bringt nichts. Alles ist ganz einfach: „Lassen Sie sich impfen, dann heißen wir Sie wieder willkommen in der Gemeinschaft“.

Philippe ist empört. Er hat sich früh impfen lassen. Er ist Student. Er fand den Ausnahmezustand bislang für gerechtfertigt. Meine Kritik daran verstand er sowenig wie mein Sohn. Nun ist er erbost. Das neue Semester beginnt nicht in allgemeiner Präsenz wie versprochen. Die meisten Vorlesungen finden nur digital statt. Video-Konserven vom vergangenen Jahr werden hochgeladen, glaubt er. In einem Rundschreiben der Universität werden die Studierenden gebeten, den Campus selten zu betreten, sich nur in Notfällen länger in den Bibliotheken aufzuhalten. Eintritt gibt es auf dem gesamten Hochschulgelände nur mit G-G-G. Wer nicht geimpft oder genesen ist muss sich auf eigene Kosten einen Tagestest besorgen. Preis um die 12 Euro pro 48 Stunden-Periode. Das alles kann Philippe noch hinnehmen. Er ist auf der glücklichen Geimpften-Seite, wie 90 Prozent der Studierenden. Doch die neue Forderung empört ihn. Die Studierenden werden gebeten, sich zusätzlich einer Grippe-Schutz-Impfung für die zu erwartende Grippe-Welle im Winter zu unterziehen. Auch sollten sie darüber nachdenken, sich einer dritten Impfung gegen das Virus in einigen Monaten zu unterziehen. Zuviel des Guten, das geht zu weit, schreibt mir Philippe, langsam werde ich wie du zum Impfskeptiker. Die ganze Zeit hieß es, na ja, mit einer Impfung ist es bei diesem Virus nicht getan, da braucht man ausnahmsweise zwei Pikse. Dann ist man „vollständig immun“. Nun erklären mir linguistisch gebildete Virologen, vollständig heißt nicht vollständig, das heißt nur temporär effektiv geschützt. Eine dritte Injektion muss sein. Wir nennen das einmal „Booster-Auffrischung“. Dieser Neusprech klingt unverfänglich. Diese Verarsche! Diese Verarsche! Wenn das so weitergeht, werde ich zum Impfverweigerer. Angeblich sind wir die künftige Elite der Gesellschaft. Doch man traut uns nicht zu, Abstand zu einander halten zu können, wenn wir uns begegnen. Wir können keine Hygiene-Regeln einhalten, wie regelmäßiges Händewachen und notfalls zuhause zu bleiben, wenn wir stark erkältet sind. Wie unmündige Kinder werden wir behandelt. Mir reicht´s.

Ich fahre dieser Tage wenn möglich Fahrrad. Selten öffentlich. Nur wenn der Nebel tröpfelt und zu feucht ist nehm ich die U-Bahn. Die S-Bahn der Hauptstadt boykottiere ich. Die automatisierte Dauerbeschallung „es besteht die Pflicht zum Tragen einer FFP2-Maske“ will ich einfach nicht hören. Sie kommt nach wie vor alle fünf bis sieben Minuten in der S-Bahn, ausgeschmückt mit Beisätzen in Deutsch und Englisch: „die Länderverordnungen sind einzuhalten, bitte informieren Sie sich darüber“. In der U-Bahn wurde die Beschallung eingestellt. Das finde ich schon Freiheit. Ich bin bescheiden geworden. Das U-Bahnfahren ist gerade locker. Vor allem Alte geben sich nasenfrei. Sie scheinen ihre Angst verloren zu haben. Wir sind doch geimpft, höre ich sie untereinander sagen. Die FFP2-Pflicht ignorieren diese Senioren völlig. Blau ist ihre Lieblingsfarbe. Dieser Farbwechsel hebt meine Stimmung. Doch dann kommt plötzlich ein verbaler Schlag auf mich. Auf dem Monitor lese ich die Schlagzeile: „G-2 nun auch im Lebensmittelladen“.  Wie bitte, was ich vor Wochen so vor mich hin phantasierte, aber real für ausgeschlossen hielt, wird Realität? Nun können Lebensmittelhändler in einer Landesregion selbst entscheiden, ob sie lebensnotwendige Esswaren nur an 2-G-Personen, an Geimpfte und Genesene verkaufen wollen. Sie können jeden Nicht-Geimpften auch mit einem tagesaktuellen, negativen Testergebnis den Essenseinkauf verwehren. Eine Postmoderne Reichsacht schließt die Tür? Ein einfacher Verwaltungsakt und schon hat man Millionen Geächtete. Es sind Millionen, die sich bislang nicht impfen ließen. Demonstrieren gegen den Ausschließungsbeschluss geht nicht. Ansammlungen von über zehn Menschen sind auf den meisten Straßen verboten. Ausnahmen schwer zu bekommen. Mancherorts nie. Es freut sich der lokale Virenvogt. Ohne Parlamentsabstimmung kann er seine Macht zeigen. Ein Dauerschreier aus dem „Team Vorsicht“ applaudiert ganz offen, er wolle den gleichen Kurs einschlagen: „Wir werden nachbessern, das heißt im Klartext, wir werden verschärfen. Wir werden es allen schwer machen,  die sich nicht impfen lassen“

Die neuen Montagen des Rechts erreichen wenige Tage später die Hauptstadt. Ich darf sie hautnah und haarnah spüren: Friseursalons können nur noch von Geimpften und Genesenen betreten werden. Keine Testung möglich. Nicht einmal Polymerase-Ketten-Reaktion-Tests, im Neusprech PCR genannt. Haareschneiden ausschließlich für 2-G-Kunden. Die Gesundheitssenatorin gibt eine weitere Empfehlung aus: Geimpfte sollten Ungeimpfte privat nicht mehr einladen. Sie sollen sich ausgesperrt fühlen. Über Nacht bin ich ein Aussortierter. In-der-Ecke-stehen oder raus in den Flur hieß es einst in der Schule, wenn wir Pennäler etwas verbrochen hatten. Die Flurschelte gehörte in meiner Kindheit zum Bestrafungskatalog der schulischen Erziehung. Zibisheichus gehörten dazu, wie wir die Stockschläge nannten. Heute heißt das neue Gesellschaftsspiel: Geimpft gegen Ungeimpft. Allerdings ohne psychische Gewalt. Eine Universität hat nun beschlossen, alle Nicht-Geimpfte komplett auszuschließen. Selbst mit Test dürfen die Studierenden den Campus nicht mehr betreten und an Seminaren und Vorlesungen nicht mehr teilnehmen. Sie sind von der Lehre ab nun ausgeschlossen. Die Zuteilung von Bürgerrechten wird hoffähig. Sie werden verteilt als knappes Gut, nicht für jedermann zu haben. Von einem Protest der Hochschullehrer vernehme ich nichts. Eine Diskussion über die Freiheitsbenutzungsrechte, jene vorgelagerten und vorausgesetzten Individualrechte jedes Einzelnen findet nicht statt. Ich kann mich glücklich schätzen, die meisten meiner Freunde und Bekannten schwenken langsam um. Ihre Bedenken nehmen zu, ihre Kritik wächst. Wir nähern uns in Gedanken langsam an. Und ich vergleiche. Vergleiche sind keine Gleichsetzungen, rede ich mir ein, um meinen Gedanken freien Lauf lassen zu können. Ich spreche sie nur im Monolog aus. „Ich will Zeugnis ablegen“, hieß ein Buch, das ich in meiner Jugend zu lesen bekam. Es stammte aus der Schreckenszeit mit schwarzer Milch. Damals hatten die Milchtrinker keine Möglichkeit ihrem Schicksal zu entkommen. Primordiale Merkmale stigmatisierten sie bis in den Tod. Der Autor schrieb minutiös, wie die Repression gegen jüdische Mitbürger schleichend vorbereitet wurde. Es begann mit einem Gesetz, mit dem das Betreten von Friseursalons verboten wurde. Gepflegte Haarschnitte durfte es nur für Arier geben.

Ich kann mich glücklich schätzen. Ich lebe in einer Demokratie. Ich kann als Nicht-Geimpfter jeden Tag die Kategorie wechseln und ein Impfzertifikat abholen. Nur hineinspaziert in ein Impfzentrum. Ohne Anmeldung gibt es den Piks. Auch in Kirchen und Moscheen. In den wenigen Synagogen wohl nicht. Das ist ein großer aber feiner Unterschied. Ich darf ein Nashorn sein. Ich kann mich notfalls dem Impf-Zepter unterwerfen. Ärger handle ich mir mit diesen Worten bei allen ein. Mischa und Tina kritisieren mich als Zyniker, Jörg und Ralf als Verharmlosender. Ich kann es keiner Seite recht machen. Jörg und Ralf meinen, diesem despotischen Gesundheitschor mit ihrer Zero-Toleranz-Ideologie müssen wir widerstehen. Sie sehen derzeit eine Übergriffigkeit des Staates. Natürlich nur mit ganz milden Parallelen zu den Zeiten vor 80 Jahren. Damals, so Jörg, wussten viele jüdische Bürger nicht, dass sie jüdische Vorfahren hatten. Das interessierte sie nicht. Sie lebten im Jetzt. Sie hatten sich assimiliert. Sie gingen unter der Woche arbeiten wie jedermann. Und am Wochenende ins Kino. Sie schauten sich „Quax der Bruchpilot“ an und sangen mit, wenn das Lied erklang, „Heimat, deine Sterne“. Erst mit den Arier-Nachweis-Gesetzen wurden sie stigmatisiert, nur weil irgendjemand, den sie oft nie kennengelernt hatten, als Jude registriert werden konnte. Bis zur Impfpflicht-Diskussion konnten wir auch ins Kino gehen, argumentieren Jörg und Ralf, nun müssen wir uns ausweisen und hören: Ungeimpfte, Eintritt verboten. Und das wird noch schlimmer werden, prophezeien beide, wenn die Allgemeine Impfpflicht kommt. Was für ein Land, frage ich mich. Ich kann es kaum glauben, als ich lese, nördlich von uns gibt es Länder, in denen das Wort Impfpflicht gar nicht in der Landessprache existiert. Umständlich müsste man es erklären, was damit gemeint sei. Wer wusste vor kurzem hier, was ein Lockdown sein könnte, was boostern überhaupt soll.

Vorerst wollen Jörg, Ralf und ich unsere Kategorie nicht wechseln. Einen feinen Haarschnitt braucht keiner von uns. Jörg hat eine lange Mähne, die er alle paar Jahre nur abschneidet. Ralf lebt mit einer Glatze und ich lass mein Haar eben wachsen. Ein Kategorie-Wechsel bringt mir gerade wenig in der Hauptstadt. Essenskauf ginge selbst in Lumpen und mit langen, dreckigen Strähnen. Und zur „Nussknacker“-Vorstellung kann ich mich eh nicht herausputzen. Der populärste Publikumsrenner des Staatsballet wurde dieser Tage verboten. Er müsse „neu kontextualisiert“ werden, so die Verbotsbegründer. Schon wieder so ein Neusprech den ich nicht verstehe. Im zweiten Akt gäbe es ein „Blackfacing“. Dieser Rassismus könne man dem Publikum nicht zumuten. Und weiter: „Auch der orientalische Tanz mit den Haremsdamen und einem Solisten mit brauner Körperschminke sind Dinge, die man so heute nicht mehr unbesprochen auf die Bühne stellen kann“. Diese Inkorrektheit wäre mir nicht aufgefallen. Ich merke, ich komme nicht hinterher, was die neue Zeit vorschreibt. So sollte ich mich auch nicht wundern, wenn die Virus-Gefahr immer wieder „neu kontextualisiert“ wird. Madame M. sagt es auf ihre Weise: „Unsere Demokratie lebt im übrigen auch von Fakten und davon, dass über all da, wo wissenschaftliche Erkenntnisse geleugnet, Verschwörungstheorien und Hetze verbreitet werden, Widerspruch laut werden muss". Wo beginnt die Leugnung, wo die Verschwörungstheorien, wo die Hetze? Die Sätze von Madame M. gehen mir unter die Haut. Sie sind mir zu zweideutig. Erst recht wenn sie daraus folgert, es gäbe Situationen „wo unsere Toleranz als Demokratinnen und Demokraten ihre Grenze finden muss“.

Wenige Tage später. Ich erhalte eine Email von Peter. In der Betreffzeile steht: „Es lebe der Judenstern“. Was soll das, frage ich mich, als ich die Nachricht öffne. Hallo Carlo, schreibt Peter, nehme es nicht persönlich, aber schau mal, wie militant manche Impfgegner geworden sind. Schon allein um dich von denen abzugrenzen, wäre es gut, du ließest dich endlich impfen. Daneben ein Bild, das eine Protestaktion aus meinem Kiez zeigt. Unbekannte klebten an die Fenster einer Kneipe einen Judenstern mit der Aufschrift „2-G-Lokal, Gesundgetestete sind hier unerwünscht“. Ach musste das sein, denke ich. Wer steckt wohl dahinter. Bitte mit offenem Visier kämpfen! Was kann ein Wirt dafür, wenn ihm unter hohen Strafen angedroht wird, sein Laden werde geschlossen, wenn er Nicht-Geimpfte ein Bier reicht. Bis zu 25.000 Euro können fällig werden. So sieht es die neue Verordnung vor. Unglaubliche Summen.  Nirgends lese ich, wie sie begründet werden. Was soll diese Abschreckung? Das Verhältnismäßigkeitsprinzip wird lächerlich gemacht. Was soll ich Peter antworten? Er las in der Zeitung über die Judenstern-Aktion. Ich sehe jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit an einem Mauerstreifen dutzende gleichlautende Plakate, aneinander geklebt: „Danke werte Impfverweigerer!  Wegen Euch geht diese dreckige Seuche nicht vorbei! Keine Partys mehr in unseren Clubs, wegen Euch!“. Auch keine feine Art, denke ich, es geht zu, als wäre Krieg. Wir alle müssen durchhalten. Irgendwie, sag ich mir. Doch so einfach fällt es mir nicht, wenn ich das Wort Durchhalten in den Mund nehme. Wieder so eine Assoziation, die mich ergreift. Ungewollt. Im echten, großen, schrecklichen Krieg trösteten sich die Geschundenen mit der Liedzeile: „Davon geht die Welt nicht unter, sieht man sie auch manchmal grau, einmal wird sie wieder bunter, einmal wird sie himmelblau“.

An einem Restaurant im Ausgehbezirk kann ich seit kurzem lesen: „Ungeimpfte und Hunde müssen draußen bleiben“. Wie kann jemand so unbekümmert solch einen Befehl aussprechen? Ich kann nicht anders, als die Mächtigen dafür verantwortlich zu machen. Ich sehe nicht, dass sie Andersdenkende anhören und mit ihnen ins Gespräch kommen wollen. Ich frag mich, ist es noch Abrechnung oder schon Ritual, um zu zeigen, wer die Macht hat. In wenigen Tagen soll eine einschneidende Order in Kraft treten, ein generelles und landesweites Außen-Vor gegen alle Nicht-Geimpften, falls sie im öffentlichen Verkehr zur Arbeit fahren wollen. Einstieg dann nur noch mit aktuellem Virustest. Wie man den in allerfrüh bekommen soll, wird nicht gesagt. In kleinen Ortschaften gibt es überhaupt keine Teststationen. Es wird viel Frust unter den Ausgestoßenen geben, da bin ich sicher. Vielleicht auch eine Radikalisierung. Eine Zweiteilung der Gesellschaft auf jeden Fall. Ich will mehr erfahren über diese für mich wahnwitzige Pendler-Einschränkung für Nicht-Geimpfte. Ich schalte das Radio an. Ich suche einen Lokalsender. Ich erwische keine Reportage. Ich erwische keine Diskussion. Ein Schlager schwappt mir stattdessen ins Ohr: „Ich kann mir nicht denken du bist plötzlich stur, das liegt doch so gar nicht in deiner Natur“, singt die Schnulzen-Dame mit einer ganz einfachen Wahrheit als Refrain: „Jeder macht Fehler, ich so wie du, lass die Tür offen, schlag sie nicht zu“. Wenn das Leben nur ein Schlager wäre! Die vornehme Musik der Virus-Paniker wird mir als fehlerfrei verkauft. Sie dürfen die Türen zu den Nicht-Geimpften zuschlagen, ganz nach Belieben. Die Mitbürger dürfen es auch. Wie anders soll ich verstehen, dass Geimpfte von den Landesvögten gebeten werden, Nicht-Geimpfte privat auszuladen? Ich muss plötzlich an eines der Satire-Videos der 53 Film- und Theater-Stars denken: „Ich habe im letzten Jahr angefangen, solidarisch mit dem Finger auf andere Leute zu zeigen. Besonders freue ich mich, wenn ich jemanden ohne Maske erwische“. Das war einmal. Maske gehört zum Leben wie Handschuh und Schal in der kalten Jahreszeit. Seit Monaten sehe ich niemanden mehr ohne Läppchen. Beim Essenseinkauf sind wir noch alle gleich. Aber nur dort. In allen Restaurants sind die 2-G-Getreuen unter sich. Ohne Ausnahme. Im Theater, in den Museen, in der Oper sowieso. Die Elite beharrt am Ausschluss der Nicht-Geimpften. Das sind einige Millionen in diesem Land. Je nach Landkreis jeder Dritte, in ganz wenigen jeder Vierte, vielerorts jeder Zweite. Sie alle werden in den seriösen Zeitungen pauschal dafür verantwortlich gemacht, dass es „für lange Zeit eine veränderte Zukunft geben wird“. Den obersten Gesundheitschef kann ich nicht mehr ernst nehmen wenn er verkündet: „Ein Umstand bleibt, den wir schon seit Monaten beschreiben: Wahrscheinlich wird am Ende diesen Winters so ziemlich jeder geimpft, genesen oder gestorben sein“.

Soll ich dem Gesundheitschef für sein Orakel danken? Ein wunderbares Rätsel für mich. Der Sensenmann gewährt mir noch ein paar Monate Lebenszeit? Da muss ich sofort krank feiern, sag ich mir. Diesen Schock muss ich verarbeiten. Bei einer so kurzen Restzeit, da müssen noch viele Abenteuer her. Ich kann doch nicht während des Arbeitslebens aus dem Leben scheiden. Ich suche unter meinen Büchern nach einer Broschüre, die ich bislang nur hin- und herrückte. Ich hatte sie in meinen 42 Arbeitsjahren nie gebraucht und nie studiert. Sie lag einfach verstaubt im Regal. „Lieber krankfeiern als gesund schuften“ heißt das Heftchen mit dem Motto, „feier krank ehe du wirklich krank wirst, so hast du Zeit zum Leben und zum Überlegen“. Ich muss nicht lange überlegen. Sehnenscheidenentzündung klingt gut für mich, die bessert sich nur sehr langsam. Die Tipps, diese vorzuspielen, überzeugen mich. Ich gehe zum Arzt um die Ecke. Genauer gesagt, ich warte auf der Straße, bis man mich in die Praxis einlässt. So sind die neuen Regeln für jeden, auch für Geimpfte. Alle müssen auf der Straße warten, können nicht mehr einfach ins Wartezimmer eintreten. Ich lese Zeitung, die mit den vier Großbuchstaben. Ich kaufte sie im Späti gegenüber. Eben dieses Blatt, das ich einst nicht einmal kostenlos in die Hände nahm, genieße ich nun. Der Kommentar zum obersten Gesundheitschef spricht einfach aus, was ich fühle: „Am Ende des Winters werden wir alle geimpft, genesen oder gestorben sein. Was für ein schrecklicher Satz. Was für einen Endkampf wird da verkündet? Ein Minister der Angst und Schrecken verbreitet, muss augenblicklich zurücktreten“. Ich kann es nicht fassen, wie diese Worte meine Stimmung heben. Und zugleich frage ich mich, wie hat wohl das Blatt der drei Kleinbuchstaben, dem ich in jungen Jahren soviel verdanke, dieses Zitat kommentiert. Es wird wohl besser sein, ich suche nicht danach. Der militärische Neusprech der meisten Tageszeitungen wird von Tag zu Tag militanter. Manche Überschriften kann man einfach nicht mehr ernst nehmen: „Der Tod wartet wegen der Ungeimpften – handeln wir schnell“ und „Es ist zum Heulen wie viel Rücksicht auf Ungeimpfte genommen wird – Stopp den Beschönigern unter den Fußballern und Kabarettistinnen“. Sind damit dien Film- und Theater-Stars gemeint, die längst wieder im Schweigenebel versunken sind? Es ist still um sie. Wollen sie nichts mehr sagen, sind sie frustriert oder werden sie ignoriert? Die großen Medien haben ihnen nie großen Platz eingeräumt um sich zu erklären und mit ihnen zu debattieren. Die Dauerschreier aus dem „Team Vorsicht“ beherrschen fast allein die Bühne: „Was wir jetzt brauchen, ist eine allgemeine Impfpflicht“. Dieser überdeutliche Ruf wird schriller und schriller. Pragmatischer nimmt es der Arzt an meiner Ecke. Er schreibt mich einfach krank. Er untersuchte mich nicht. Ihm reichten die wenigen Worte, die ich sprach. Ich sagte ihm nebenbei, ich sei nicht geimpft. Das ist allein Ihre Sache, antwortete er, ich impfe nur wer das wünscht. Sie können ja wiederkommen. Das werde ich wohl in drei Wochen. Jetzt bin ich glücklicherweise für drei Wochen von der Arbeit befreit. Danach will ich noch einmal drei Wochen krank feiern. Ich lerne dazu. Auch ich will mein künftiges Leben neu kontextualisieren.

Ich bin guter Stimmung. Ich bin ja krank und gesund zugleich. Die Schlagzeile am Tag nach dem Arztbesuch kann mir nichts: „2500 Euro Strafe für 3-G-Verstöße in Bus und Bahn“. Ich gehe alle Wege zu Fuß, das hab ich mir fest vorgenommen. Sollte ich tatsächlich einmal die Straßenbahn benützen wollen, hol ich mir eben einen Virus-Test. Einmal pro Woche ist er kostenlos. Es beginnt ein neues Dehnen der Tage, fern von Arbeitswegen. Viel Zeit liegt vor mir. Bewegung ist gefragt. Ärzte warnen bereits vor einem „Diabetes-Tsunami“, schreiben die Zeitungen. Der Grund sei, ein Drittel der Bürger, habe im Schnitt in den vergangenen zwölf Monaten sechs Kilogramm zugenommen. Die Übergewichtigkeit steige in allen Altersgruppen, die Todeszahlen auch. Da bin ich als Langstreckenwanderer endlich einmal auf der richtigen Seite. Doch nur bei diesem Realitätsausschnitt. Das bescheinigt mir zumindest der Ehemann von Madame M. Er glaubt seiner Frau moralisch beispringen zu müssen: „Ich bin sehr traurig über den Teil der Bürger, der aus unlogischen Gründen die Realität ignoriert“. Hat ein Realitätsignorant soviel Trauer verdient?  Ich glaube kaum. Jeder sieht, was er sehen will. Ein Herr anderes als sein Knecht, lehrte mich schon früh Onkel Robert: „Alles was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein. Es gibt keine Realität der Dinge a priori“. Das habe ich verinnerlicht. Damit kam ich als Journalist und Psychotherapeut fein durchs Leben. Nun ist alles anders. Ich begreife erst langsam, sehr langsam, wie ein Präventionsstaat zu funktionieren hat. Trotz oder gerade wegen meiner journalistischen Vergangenheit? Homo sacer lässt jedenfalls grüßen. Aber damit komme ich nicht weit. Vielleicht sollte ich schleunigst den Impfpass als modernes Erkennungszeichen annehmen und die neue Realität dazu. Nein, es ist noch zu früh sagt eine Stimme in mir. Ich kann nicht vergessen, was mir Tante Ester mit ihrer befremdlichen Sprache mit auf den Weg gab. Nicht nur zu Kain und Abel. Wenn ich es modern übersetze, dann klingt es so: „Mit eigener Elle kann man die Welt nicht messen, Schnack, schon gar nicht für einen anderen. Wenn dir einer sagt, was du denken sollst, frag dich, wessen Wein er getrunken hat. Und Vorsicht: Leere Weinfässer machen großen Lärm“.

Thea, die Partnerin von Ralf, ist eine Aussortierte wie ich. Ich schreibe Ralf an. Ich will wissen, wie geht es ihr, seitdem im öffentlichen Stadtverkehr täglich ein aktueller Virustest für Nicht-Geimpfte gefordert wird. Ralf meldet sich sogleich: Lieber Carlo, vielen Dank für deine liebe Email. Uns geht es trotz der Verschärfungen heute gut. Thea muss sich jetzt jeden Tag von einer Impfbeauftragten unserer „geliebten“ Zeitung testen lassen, damit sie an ihren Arbeitsplatz darf. Für den nächsten Morgen gilt dann dieser Test noch nicht einmal mehr für die Fahrt zur Arbeitsstelle. Der gilt nur tagesaktuell. Dann muss sie eben schwarzfahren. Gerade sehen wir diesen ganzen gesellschaftspolitischen Schwachsinn nicht als Tragödie an, sondern als Komödie. Wenn es uns gelingt die Gefühle von Zorn und Empörung außen vor zu lassen, wirkt das Ganze nur noch lächerlich auf uns. Natürlich gibt es auch andere Tage. Am letzten Wochenende ging es mir beschissen. Ich war geschockt über soviel autoritäre Dreistigkeit unserer Politikerkaste - allen voran die immer gleichen Panikschieber. Dass die jetzt auch noch die Impfpflicht einführen und den Nürnberger Codex von 1948 außer Kraft setzen wollen, hat Thea und mich im ersten Moment umgehauen. Unser Grundgesetz ist nichts mehr wert. Im Namen des Infektionsschutzes  wird dann letztendlich auch noch die körperliche Unversehrtheit ausgehebelt. Was mich am meisten schockiert, ist die Indolenz und Dummheit der meisten Mitmenschen - vor allem auch der nachgekommenen Generation in unserer Zeitung. Die können nicht mehr denken, sind fanatisiert und geben nur noch die dumpfen Parolen der Politiker von sich: "Die Ungeimpften sind Schuld an der Pandemie, haben den Tod von Tausenden auf dem Gewissen" etc. pp. Natürlich kommen in mir dann auch Assoziationen in Bezug auf die Nazizeit hoch. Wir werden uns (hoffentlich) bald wieder treffen. Ich wünsche dir von Herzen viel Kraft, Mut und Standfestigkeit. Herzlich, Ralf.

Omikron ist da. Hochansteckend. Omikron kommt nach Delta. So sagt es das griechische Alphabet. So benennen die Virologen die neue Virus-Mutation. Gerade ist sie aufgetaucht aus dem Fernen Süden. Bisher nur vereinzelt registriert, wird sie sich im Land rasant ausbreiten. Das sagen die Experten.  Philippe ruft mich an. Carlo, sagt er, ich kann es nicht glauben, jetzt geht der Uni-Ausschluss flächendeckend weiter. Omikron, die neue Mutante fordere dies, wird uns einfach kurz über Email von der Uni-Verwaltung mitgeteilt. Was sollen wir machen? Wie organisiert man ein Sit-in? Du bist doch erfahren darin. Ja, müsste man meinen. Ich habe Philippe oft davon erzählt, wie wir einst unser Psychologisches Institut besetzten, um gegen eine anstehende Hochschulreform zu protestieren. Wir schliefen sogar vor Ort, das weiß ich noch. Weiß ich das nur, weil ich mich an ein Mädchen ankuschelte? War das Kuscheln doch wichtiger als die Politik? Ach, was macht nur das Gedächtnis! Wie fein sondert es aus, was man behalten will! Ja, sag ich zu Philippe, ich weiß nicht, wie ihr auf die Barrikaden gehen könnt. Ich habe auch schon gehört, ab kommender Woche gilt in einem Südland 2-G. Keinerlei Teilhabe für nicht-geimpfte Studierende. Kein Test hilft gegen den täglichen Ausschluss. Bislang war es so, Nicht-Geimpfte hatten an einer Hochschule blaue Bänder am Armgelenk zu tragen, in einer anderen wurde deren Sitzplatz mit einem roten Papierstreifen markiert. Da sollen einem keine Assoziationen durch den Kopf gehen? Sorry, sagt Philippe, ab jetzt stehe ich zu meinen Vergleichen, oh ja. Noch vor drei Monaten hat die Justizministerin die Verfassungsmäßigkeit von 2-G angezweifelt. Jetzt wird einem Teil der Studierenden das Recht auf Bildung genommen. Eigentlich ist es doch ganz einfach, sag ich zu Philippe. Jetzt müsst ihr nur noch eine Gruppe von Geimpften bilden, die eben zum gemeinsamen Boykott aufrufen und zumindest 3-G-Rechte fordern. Gute Argumente habt ihr auf eurer Seite. In eurem Alter ist ein Krankheitsverlauf  in der Regel milde und jede Genesung bewirkt eine natürliche Immunisierung, die weitaus nachhaltiger ist als jede Impfung. Wie dieses Wissen von der Politik ignoriert werden kann, ist für mich unverständlich. Dies wird von Experten ausgesprochen, die von den Virusvögten ernst genommen werden, wenn sie sich zu anderen Aspekten der Krankheit äußern. Noch bis vor kurzem hätte ich gespöttelt, sag ich zu Philippe, logische Formen sind eben zahllos und zwei plus zwei ist manchmal grün. Nun vergeht mir das Lachen. Ich glaube nicht an Protest. Trotz weitergehenden Verschärfungen.

Die Mehrheit glaubt dem Gesundheitschef: „Omikron stellt alles in den Schatten, was wir bisher erlebt haben. Das Beste wäre, das gesamte kommende Jahr würde ein 2-G-Jahr werden“. Ach wie schön! Zu allem was er sagt hat der Virenexperte ein wissenschaftliches Papier zur Hand. Das behauptet er zumindest in unzähligen Talks-Shows. Er ist Stammgast auf allen Kanälen. Das wäre er wohl kaum, wenn er nicht ständig etwas Neues zu warnen hätte. Quellenangaben vernehme ich von dem Impf-TÜV-Befürworter nicht. Dass seine Interpretation der Papiere oft denen anderer Virenexperten aus anderen Ländern widerspricht, lässt ihn kalt. Warner werden in diesem Land gerne hofiert. Auch jener Parlamentarier einer Partei, dich ich einst gerne wählte, behauptet kurzerhand: „Aus wissenschaftlicher Sicht ist zudem eine neue Variante, die gefährlicher als alle vorangegangenen Mutationen ist, das wahrscheinlichste Szenario für den Herbst“. Verbal hart ausgeholt wird gegen alle Entwarner. Einen mir sympathisch Virologen, dessen Sprache ich klarer zu verstehen glaube, belächelt der Gesundheits-Frontmann als einen Zweitlegisten gegen den „Erste-Klasse-Spieler“ der Wissenschaft, mit dem er in dauernden Austausch stehe. Der vermeintliche Amateur leitete immerhin für die Weltgesundheitsorganisation ein globales Forschungsnetzwerk gegen einen ähnlichen Virus. Der vielgelobte Erste-Klasse-Spieler dagegen machte sich international kaum einen Namen. Seine Reputation beruht auf der Entwicklung der Polymerase-Ketten-Reaktion-Tests, im Neusprech PCR genannt. Für mich ist klar, wem ich mehr vertraue. Es leuchtet mir ein was ich aus der Weltgesundheits-Institution höre:  Die neue Variante ist ansteckender, doch der Krankheitsverlauf milder. Die Abschwächung ganz im Sinne des evolutionären Laufs aller Viren-Mutationen. Auch die kommenden werden schwächer werden.

Langsam verschwöre ich mich mich: Sonderweg-Land, wie bist du nah! Vorsicht Carlo, was du sagst. Nenn es Eigensinnweg, nicht Sonderweg. Diese Denkfigur des zweiten Wilhelms gehört wirklich der Vergangenheit an. Lange vor deiner Geburt wurde sie begraben. Aus gutem Grund. Dieser Monarch hatte einst den Irrglauben, da die Industriealisierung während seiner Regentschaft solch einen Sprung machte wie nirgendwo sonst auf dem Kontinent, sein Reich sei auf einem überlegenen Sonderweg gegenüber allen Nachbarn. An seinem Wesen sollte die Welt genesen. Wohin das führte, weiß jedes Kind. Also Vorsicht mit geschichtlichen Begriffen zur falschen Zeit. Wie sagte der vollbärtige Denker, den die roten Chiliasten wie einen Gott verehrten: „Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal, das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce“. Diese Farce ist mild. Das muss ich eingestehen. Gegen die autoritären Einschränkungen kann ich mich wehren. Verglichen mit all den Tragödien vor meiner Zeit ist dieser Eigensinn erträglich. Auch wenn ich die Zermürbung als Nicht-Geimpfter satt habe. Die vorgegebene Motivation ist nicht die eigentliche, lernten wir Psychos. Nur noch vorgeschoben ist der Infektionsschutz. Es geht schlicht um scharfe Ausgrenzung und Bestrafung. Bürger wie ich sollen mürbe werden. Das erzählt man sich längst beim Einkauf, höre ich beim Smalltalk mit Nachbarn. Auch jene, die die Einschränkungen angebracht und überzeugend finden, sagen es offen, die Ungeimpften sollen zur Räson gebracht werden. Dutzende Virologen wiederholen, „es wurde bisher noch nie nachgewiesen, dass ein Supermarkt ein Super-Spreader-Event sein kann, die Ansteckungen finden meist im Privaten statt“. Fast jeder kennt jemanden, bei dem die Virus-Erkrankung asymptomatisch ablief, wie man das im Neusprech nennt, der erkrankte aber sich nicht krank fühlte. Wohin er schaue sei es so, erklärt ein Staatsrechtler von Rang und warnt: „In einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie darf sich der Staat nicht anmaßen, dem einzelnen Menschen eine bestimmte ärztliche Behandlung aufzuzwingen. Nicht einmal in der sonst so vehement als autoritär gescholtenen Volksrepublik im Fernen Osten besteht eine allgemeine Impfpflicht.“ Dieser Jurist schreibt diese Sätze in einer Zeitung, die ich einst schnell zur Seite legte. Heute lese ich sie genau. Einst mochte ich ihn nicht sonderlich, als er hohe Ministerämter innehatte. Jetzt spricht er mir aus dem Herzen: „Es ist gewissenslos, die früheren Festlegungen in einer Frage, die den Kern der Grundrechte angeht, einfach über Nacht zu Makulatur zu erklären“. Eine einsame Stimme, die ruft. Wo sind die heimischen Professoren, frag ich mich, die etwas zu sagen hätten, sich in der Materie auskennen und öffentlich zur Debatte aufrufen könnten. Sie zählen sich zur geistigen Elite und machen das Herrschaftsspiel einfach mit. Sie machen sich keine gesamtgesellschaftlichen Gedanken zu public health und Bürgerrechten. Sie genießen den Eigensinnweg. Käme es zu einem Sonderweg, ich fürchte, auch den würden sie beklatschen. Protest braucht in einer Demokratie keinen großen Mut. Nur ein kleinwenig Phantasie. Tante Ester hör ich sprechen: „Freiheit verloren, halb verloren. Mut verloren, alles verloren“.

Ein Neusprech im Eigensinnweg-Land macht die Runde. Überall darf ich ihn vernehmen: „Es führt kein Weg an der allgemeinen Impfpflicht vorbei, das ist die endgültige Wahrheit“. Endgültige Wahrheitsdogmen kennen nur die Religionen, dachte ich immer. Man lernt nie aus, sagt die Volksweisheit. Ich sollte diese Nur-das-Impfen-hilft-Weisheit einfach verinnerlichen. So könnte ich die Sätze, die ich nun höre, besser verkraften: „Wir haben immer darauf gesetzt, dass sich möglichst viele davon überzeugen lassen, Impfen tut gut“. So spricht der neue Nachlassverwalter von Madame M. Für den Staatslenker steht zweifelsfrei fest: „Hätten wir eine höhere Impfquote, hätten wir eine andere Lage“. Da diese Impfverweigerer so uneinsichtig seien und so unvernünftig, „kann man nicht herzlos zuschauen“. Welche Ankündigung steckt hinter diesen Worten? Ich spüre einen religiösen Zungenschlag hinter der „endgültigen Wahrheit“. Der Nachlassverwalter hat kürzlich bei seiner Vereidigung ins höchste Staatsamt den Zusatz, so wahr mir Gott helfe weggelassen. Sein gutes Recht. Und doch werde ich den Verdacht nicht los, ein tiefgläubiger Jakobiner steht nun an der Staatsspitze. Er gibt sich säkular-aufgeklärt und vertraut allein der Wissenschaft. Das sagt er von sich. Ich glaube ihm nicht. Denn die Wissenschaftler sagen derzeit mehrheitlich, Testungen sind das wirklich Sicherste, um die Verbreitung von Delta und Omikron unter Kontrolle zu halten. Der Test sage tagesaktuell ob wir das Virus in uns tragen oder nicht. Der Test sei genauer, als der Status eines Geimpfter, denn auch ein Geimpfter kann das Virus in sich tragen und weitergeben. Darin habe man sich geirrt, als man glaubte, Geimpfte würden das Virus nicht mehr verbreiten. Ich blicke nicht mehr durch. Ich ertappe mich, wie wirre Gedankenschleifen sich in meinem Kopf drehen und winden. Ist Impfen nun ein Game-Changer oder nicht? Wer gefährdet gerade wen? Wenn der Impfstoff wirkt, warum soll ein Geimpfter dann Angst vor einem Nicht-Geimpften haben? Wenn die Impfstoffe aber nicht so wirksam sind, muss sich dann ein Geimpfter nicht zu gleichen Teilen vor einem anderen Geimpften in Acht nehmen wie vor einem Nicht-Geimpften?

Also was ist nun die endgültige Wahrheit? Mein innerer Fragenmonolog treibt mich nicht um. Ich schlafe noch gut des Nachts. Ich weiß, in allen existenziell relevanten Fragen, kann niemand nur nach wissenschaftlichen Kriterien leben. Doch die Schlussfolgerungen der regelsetzenden Ordner und Gebieter gehen mir unter die Haut. Sie moralisieren mit der Wissenschaft. Sie haben ihre Lieblinge, die sie einfach zu Top-Experten erklären. Und denen soll geglaubt werden. Was sie sagen ist objektiv, wird verkündet. Ich bin entsetzt. Die Wissenschaftsphilosophen, denen ich unter anderem meine berufliche Karriere verdanke, sprachen es so klar aus, „es ist gänzlich verfehlt anzunehmen, dass die Objektivität der Wissenschaft von der Objektivität des Wissenschaftlers abhängt“. Der Naturwissenschaftler sei „ebenso parteiisch wie alle anderen Menschen“ und er sei“ leider gewöhnlich äußerst einseitig und parteiisch für seine eigenen Ideen eingenommen“. Ich merke, ich lebe in einem Land von Glaubenswächter. Sie ernennen nach Belieben aus ihren Reihen moderne Exorzisten, deren Aufgabe es ist, Ungläubige auszumachen. Im Virus-Neusprech Querdenker und Unvernünftige und Verweiger genannt. So bitter ist mein Blick. Wer nicht geimpft ist, wird mit 2-G vor die Tür gesetzt. Immerhin einige Millionen Bürger. Dazu braucht es kein öffentliches Tribunal. Embleme und Verbotsschilder auf den Fußböden, den Schaufenstern und Kneipentüren reichen aus. Und die Kirchen machen mit in dieser Ankunftszeit. Der exklusive Zutritt zum Adventsgottesdienst gilt nur für 2-G-Gläubige. Mit wenigen Ausnahmen. Auch die Christmette soll nur unter Auserkorenen stattfinden, erklären die Oberhirten. Da klingt es fast ketzerisch, wenn ein einziger Erzbischof im Eigensinnweg-Land den Musterchristen vorhält: „Weihnachten ist das Fest, wo Jesus und seine Familie ausgesperrt wurden. Das ist ein ganz schlechter Weg“. Der Hirten-Appell verpufft. Der schlechte Weg wird befolgt.

Die Weihnachtsfeiertage und der Jahreswechsel nahen. Reisebeschränkungen könnte es für Nicht-Geimpfte geben. Es wird laut darüber nachgedacht. In Kinos gilt bereits 2-G-Plus. Ein erweiterter Neusprech: Das Plus hinter dem G steht für Geimpfte plus tagesaktuellen Test. 2-G-Plus soll ausgedehnt werden. Ich halte 2-G in Fernzügen für möglich. Schon jetzt heißt es, nur mit tagesaktuellem Test einsteigen. Aber nicht das Restaurant betreten. Da gilt 2-G. Das hat nichts mit Hygiene zu tun. Zumindest wenn man an jenen Aspekt der neuen offiziellen Erzählung glaubt, dass tagesaktuelle Test sicherer sind als zurückliegende Impfungen. Doch die Zurück-liegend-Geimpften dürfen im Speisewagen essen und trinken so lange sie wollen. Ich rufe meine Schwester Annette an. Ich hab sie seit einem Jahr nicht gesehen. Sie lebt noch immer unweit unserer Geburtsstadt, 50 Kilometer entfernt in einem kleinen Dorf im Alpenvorland. Sie ist um einige Jahre jünger als ich. Ihre Tochter geht noch aufs Gymnasium. Ihr Mann hat sie vor zwei Jahren verlassen. Kurz danach hatte ich sie besucht. Seitdem haben Annette und ich uns nicht mehr gesehen. Ich bin arbeitsfrei, sag ich am Telefon, wie sieht es aus, passt ein Besuch für dich. Die Hauptstadtluft ist mir zu dick geworden. Na klar, Bruderherz, doch eine Atemfreiheit kannst du nicht erwarten. Ich darf nirgendwo hin mit dir, du Freigeist, außer ins Schuhgeschäft wenn wir über die Grenze hinüber fahren. Annette hat sich kürzlich impfen lassen. Der Impfdruck auf Arbeit war ihr zu groß. Sie glaubt nicht an den Schutz der Impfstoffe für sich. Mein Immunsystem ist stark, sagt sie. Aber was soll ich in einem Schuhgeschäft liebe Schwester? Ach Carlo, lacht Annette, ich will doch nur spaßen. Hast wohl nicht mitgenommen, im Dreiländereck gibt es Sondergesetze. Aber nur regional begrenzt. Nicht-Geimpfe dürfen sich dort neue Schuhe zulegen. Da wird das 2-G-Regelwerk außer Kraft gesetzt. Du weißt doch, im Dreiländereck wandern die Menschen doch so gern. Wir sind ein Bergvolk. So sprach der Landesvater, gutes Winterschuhwerk muss sein. Das ist so wichtig wie Essenseinkauf und Apothekengang, befand er. Wir brauchen diese Ausnahme. Wir sind ansonsten auf Linie. Für uns gilt, Ungeimpfte sollen nicht in öffentliche Schwimmbecken eintauchen oder im Fitness-Studio ihren Körper zum Schwitzen bringen. Da sind wir hart. Härte muss sein, suggeriert manch ein Journalistenkollege, mit dem ich einst ein Bier trinken ging. „Es wird Zeit für einen effektiven Mehrheitenschutz“, muss ich nun in einem renommierten Wochenblatt lesen, „Du bist nichts, dein Volk ist alles, hieß es einst bei den Nazis. Diesem menschenfeindlichen Irrsinnhaben wir gottlob hinter uns gelassen. Doch nun sind wir auf dem Weg zum anderen Extrem: Du bist alles, die Gemeinschaft zählt nichts“.

Peter meldet sich per Email. Sie passt für meine Stimmung wie die Faust aufs Auge. Er schreibt mir, stelle dir vor Carlo, ich habe das Virus. Obwohl ich durchgeimpft bin! Es hat mich erwischt. Ich habe etwas Kopfweh, etwas Gliederschmerzen, etwas Fieber. Alles zum Ertragen. Wäre ich nicht geimpft, schreibt er weiter, ich wäre jetzt schwer krank. So wie du es noch werden wirst, wenn du nicht schnellstens anpasst und Impfen gehst. Was Peter alles weiß, was noch alles auf mich zukommen wird? Ich hab nur ein mitleidiges Lächeln für seine Angst. Noch vor kurzem wusste er, er werde nie mehr erkranken, er sei gegen das Virus völlig immun. Ich dagegen werde in kürzester Zeit darniederliegen. Monate später sieht es gerade umgekehrt aus. Reiner Zufall, das glaube auch ich. Trotzdem bin ich schadenfroh. Ich wünsche Peter gute Besserung in einer kurzen Email. Ich habe keine Lust auf einen Gedankenaustausch. Er glaubt an seine Erzählung, ich an meine. Dazwischen liegen Welten. Die Kluft wird größer. Ich schicke Peters Email an Ralf weiter. Pech soll es geben, schreibt er mir zurück, vielleicht wird er nicht zum letzten Mal erkranken. Wer weiß, wie der Zufall so spielt. Spannend wird es für jeden von uns noch werden, ich denke da an die neue Erklärung von Madame M.: „Es wird kein abgeschlossenes Geimpftsein geben“. Heißt das, Impfen künftig im Halbjahres-Rhythmus wie der Besuch beim Zahnarzt? Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier – steht ein Impf-Abo vor der Tür? Ralf und ich sind ratlos. Wie anders als mit Disziplinierung und Überwachung will man eine allgemeine Impfpflicht durchsetzen? Peter ist schon der zweite, den Ralf und ich persönlich aus unserem gemeinsamen Journalistenkreis kennen, der als Geimpfter erkrankte. Das besagt nichts, das wissen wir. Eben Zufall. Ein Leben in Zufällen ist uns wichtig. Als wir das Blatt der drei Kleinbuchstaben mitprägten, war uns klar: Jede totalitäre Gesellschaft strebt danach, den Zufall abzuschaffen und die Notwendigkeit der Kontrolle über alles zu stellen. Eclaircissement und die Worte der Aufklärer mahnen uns: „Der Mensch ist von Natur aus mit elementaren Freiheitsrechten ausgestattet, die keine irdische Macht in Frage stellen darf. Der Staat ist nur ein Zweckverband zum gegenseitigen Schutz für Leben und Freiheit. Er ist nicht dazu da, das Gemeinwohl zu bestimmen“. Sapere aude!.

Ich reise zu meiner Schwester Annette. Ich bin negativ getestet. Ich ließ mit tags zuvor in beide Nasenhöhlen ein Teststäbchen schieben. Jetzt habe ich eine 24stündige Reise-Genehmigung in der Tasche. Die ließ ich mir ausdrucken. Ich wollte sie nicht auf dem Smartphone gespeichert sehen. Die Fahrkartenkontrolleure sind freundlich. Sie fragen nicht nach dem Impfstatus. Kurz ist ihre Lautsprecheransage, es gelte 3-G und Maskenpflicht auf der gesamten Fahrt. Danach hab ich Lautsprecherruhe. Ich lese mehrere Zeitungen, die ich mir aus dem 1. Klasse-Abteil hole. Alle sind voll mit Virus-Geschichten. Diese unendliche Geschichte! Ich erfahre, „nicht nur hat das Virus die Welt fest im Griff, wir werden auch Zeuge einer Informations-Pandemie, kurz Infodemie“. Wieder ein Neusprech für mich. Wissenschaftler haben herausgefunden, schreibt die Qualitätszeitung, wenn die Infektionszahlen niedrig waren, hatten „umfassende Desinformationskampangen“ großen Einfluss. Wenn die Infektionszahlen anstiegen, wanden sich die Verunsicherten, „wieder verlässlichen Quellen oder großen Medienhäusern zu“. Daraus ergebe sich die Aufgabe: „Nicht nur das Stocken der Impfkampagne hat gezeigt, mit der Bekämpfung des Virus allein ist es nicht getan. Auch der Infodemie an Desinformationen muss begegnet werden“. Wie, das sei die große Frage. Da sei man noch nicht weit gekommen, trotz riesiger Datensätze. „Das wissenschaftliche Fazit“, resümiert der Autor am Ende des ganzseitigen Textes, sei eben, „das menschliche Verhalten bleibt bei allem die größte Unbekannte“ Was mache ich mit dieser Erkenntnis? Ich lese weiter Zeitung. Und finde eine erfreuliche Nachricht: Nach langer Beratung hat ein Oberverwaltungsgericht die Genehmigung eines Virusvogtes als verfassungswidrig erklärt, Nicht-Geimpfte vom Lebensmitteleinkauf auszuschließen. Gott sei Dank, die Reichacht entfernt sich! Es hat zwar zwei Monate gedauert, bis die Richter diese Entscheidung trafen, aber nun ist sie gefallen. Was will ich mehr. Mit wenigen Rechten gebe ich mich zufrieden. Ich kann aus dem Zugfenster schauen und kann lesen. In vier Stunden bin ich am Ziel. Als ich jung war brauchte man für die gleiche Strecke einen ganzen Tag. Viel hat sich verändert. Damals konnte man die Fenster öffnen, über ein blaues Läppchen im Gesicht hätte man gelacht. Jetzt bin ich froh, ohne FFP2 reisen zu dürfen. Die weiße Bedeckung wird nur empfohlen. Den Weg zum Speisewagen spar ich mir. Ich will keine Zurückweisung erfahren. Mein Platz ist weich, mein mitgebrachter Saft schmeckt lecker. Ich nehme eine weitere Zeitung zur Hand. Eine Überschrift sticht mir in die Augen. Oh nein, muss das sein! Warum nur gibt es immer neu Hiobsbotschaften! Diese betrifft mich nicht persönlich, dennoch bringt sie mich auf. Es gibt Einlassbeschränkungen bei den Tafeln,  jenen Wohltätigkeitsorten,  an denen sich Arme und Schwache gespendete Esswaren abholen können. Doch nun heißt es bei manchen Tafeln: Einlass nur für 2-G-Bedürftige. Eigentlich konsequent, könnte ich sagen. Wenn schon die Christmette nur unter Auserkorenen stattfinden darf, dann sollen Bedürftige und Obdachlose ohne Impfstatus auch keine Essensreste bekommen. Eine warme Suppe gibt es eben nicht umsonst.

Es schneit. Es ist Samstag. Meine Schwester hat Zeit und Lust, in meine Geburtsstadt hinüber ins Hochalpenland zu fahren. Wir schlendern durch die Altstadt. Die Gassen und Fachwerkhäuser, für mich einfach eine Pracht. Die Menschen dagegen verwirren mich. Maskenträger und Apothekenschlagen trüben meine Freude. Der Zeichendschungel an den Eingangstüren sagen mir unmissverständlich, ungeimpfter Heimkehrer, hier bist du fehl am Platz. Aufwärmen ist nicht. Biberli und Guetzli sind für dich tabu. Qualitätszeitungen darf ich kaufen. Bei meinem letzten Besuch kaufte ich sie nicht. Damals, lange ist es her, setzte ich mich ein feines Lokal und las ganz in Ruhe eine Zeitung nach der anderen. Stundenlang, wie ich es gewohnt war. Jetzt bin ich froh, dass ich noch beim Tagblatt vorbeischauen kann. Ich habe Glück, der alte Portier, den ich noch aus meinen Journalistentagen kenne, hat gerade Dienst. Er ist grau geworden wie ich. Sein Bauch dicker. Er erkennt mich und ich ihn. Wir umarmen uns. Wir geben uns ein kurzes Lebensupdate. Keiner der alten Kollegen ist noch da, erzählt er mir. Sie sind längst in Pension. Ich merke, wie ich neidisch werde. Die Pension, das Wort Rente kennt man nicht, beginnt hier früher, für Frauen noch früher und mehr Geld gibt es auch als in meiner Hauptstadt. Der Portier drückt mir einen dicken Stapel Zeitungen in die Hand. Lese mal in Ruhe, das Tagblatt ist progressiver geworden. Ja, ja, lache ich, ich kenne mein Ex-Blatt. Wir drücken uns und wünschen uns Gesundheit und ein langes Leben. Am Abend dann, im Wohnzimmer meiner Schwester, traue ich meinen Augen nicht. Im ersten Augenblick bemerke ich gar nicht, was ich gerade lese. Ich lese Worte wie Hausarrest und Kasernenton. Ich stutze. Ein Interview mit dem Bürgermeister meiner Geburtstag habe ich aufgeschlagen: „Einen Hausarrest wie bei unseren nördlichen Nachbarn wird es bei uns nicht geben, egal wie sich Omikron ausbreiten sollte“, lese ich, „der Kasernenton dort von weiten Teilen der Politik gegenüber Impfskeptikern ist unerträglich “. Wie bitte? Ist mein Ex-Blatt linksradikal geworden? Ich kann es nicht fassen. So klare Worte aus dem Mund eines bürgerlichen Politikers? Auf solche Worte kann ich in der eigensinnigen Hauptstadt lange warten. Wie sehr habe ich mich an den Eigensinnneusprech gewöhnt. Sätze von der Sinnhaftigkeit der Kontaktbeschränkungen und der dringenden Notwendigkeit, Nicht-Geimpften einige Rechte vorzuenthalten, nehme ich einfach hin. Aus einer anderen Tagblatt-Ausgabe erfahre ich Details, von denen ich bislang nichts mitbekommen habe. Ein bekanntes Phänomen im Journalismus ist es, das hätte ich längst in Erinnerung rufen müssen, über das Ausland kritischer zu berichten als über das eigene Land. So kann ich lesen, was rechtsbeugenden Ordner und Gebieter an Verschärfungen erklären: Es brauche, so einer der Virusvögte, die „klare Botschaft an die Ungeimpften: Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben“. Ein anderer fordert: „Eine Impfpflicht, gerne bis zur Beugehaft“. Ich darf orakeln was als nächstes an Vorschlägen kommen wird. Um weniger überrascht zu werden, nehme ich mir vor, ab jetzt regelmäßig auf die Online-Seiten meines Tagblatts zu gehen und auf andere Zeitungen aus meiner alpinen Vergangenheit. Ohne Frage, es gibt auch hier ein Regelwerk, das mich einschränkt. Es gilt 2-G für die Innengastronomie ohne Testmöglichkeit für Nicht-Geimpfte. Masken sind verpflichtend im öffentlichen Verkehr, Zutritt allerdings für jeden. Keine Testpflicht wie im Eigensinnwegland für Nicht-Geimpfte. Keine Kleinigkeit allerdings: Eine allgemeine Impfpflicht wird es nicht geben. Das ist einhellige Meinung unter Politikern, Virologen und Juristen. Das passe nicht zu einem freiheitlichen Land. Ist das Bergvolk nun fortschrittlich oder stur? Einst als ich die Heimat verließ, sagte ich stur. Heute sage ich freiheitsliebend. So ändern sich die Zeiten. Oder änderte ich mich? Wie konnte ich nur zum Geburts-Patrioten mutieren? Vielleicht liegt es daran, dass ich als Besucher nicht die Feinheiten sehe, die mir in meinem vertrauten Ausgehbezirk in der Hauptstadt ins Auge springen. Es sind die Feinheiten, die Überraschungen, die das Leben lebenswert machen. Beim Lesen einer Zeitungsnotiz werde ich stutzig. An einer Stelle heißt es, ein Genesener könne sich zwar auch mit den neuen Mutationen von Delta und Omikron anstecken, werde aber nur leichte bis gar keine Symptome haben. Nirgendwo auf dem Kontinent, so das Datenmaterial, sei ein ehemals Genesener wieder wegen einer schweren Infektion in ein Krankenaus eingewiesen worden. Mir düngt, ich höre tagaus, nachtein das Gegenteil. Jeder Genesene würde, wenn sie sich nicht nach einer gewissen Zeit einer Impfung unterziehen würde, auf die neuen Varianten so anfällig werden wie Ungeimpfte und wie diese schwer erkranken können: „Aus neuer wissenschaftlicher Sicht wäre es am besten, den Genesenen-Status von derzeit 6 Monaten sogar zu verkürzen“. Ganz anders klingt es aus der Geburtsheimat: „Aktuelle wissenschaftliche Daten zeigen nun, dass man nach einer Infektion lange ausreichend geschützt ist“. Den Genesenen-Status haben die Berg-Parlamentarier deshalb vor zwei Wochen auf 12 Monate verlängert. Wer hat nun den neuesten Stand der Wissenschaft? Macht die Bergluft einen entscheidenden Unterschied? Welcher Ansicht schließe ich mich an? Die Entscheidung fällt mir leicht.

Ich bin traurig als ich nach zwei Tagen von meiner Schwester Abschied nehme. Das ist gut so. Ich spüre meine Verbundenheit zu ihr. Der Altersunterschied und unsere unterschiedlichen Lebensentwürfe stören nicht. Ich freue mich nicht auf meinen Hauptstadt-Kiez. Der Werbeslogan lügt. „Arm aber sexy“ war gestern. Ich denke zurück an meinen Besuch in den Bergen. Für mich geht es dort weder leichtsinnig noch mutig zu, sondern einfach vernünftig. Es fehlt die Neigung zum Reglementieren. Es gibt weniger Bürger, die gerne Anweisungen von oben annehmen und gerne weiter geben, um nicht selbst entscheiden zu müssen. Ein Hang zum Obrigkeitsstaat, dieses alte Klischee, wirkt eben nach. So mein Blick auf mein eigensinniges Land. Ein Glück, endlich gibt es eine Party. Freund Mischa hat Geburtstag und er schert sich um keine Anordnungen mehr. Er feiert immer zwei Tage vor dem Großen Fest. Im vorigen Jahr war ich sein einziger Besucher. Ich bin erschrocken als ich höre, in diesem Jahr sind wir nur drei. Die beiden anderen Gäste, die kommen wollen, sehe ich nur einmal im Jahr. Eben auf dieser Geburtstagsfeier. Ansonsten begegnen wir uns nicht. Sie sind anders gepolt als ich. Sie interessieren sich für Dinge die mir gleichgültig sind. Auch jetzt denken sie über das Virus-Geschehen anders als ich. Sie bitten alle Anwesenden einen Selbsttest zu machen. Mischa warnt mich über das Testen schon vor. Ich bin froh, dass sie überhaupt feiern kommen, sagte er mir bereits am Telefon. Stell dir vor Carlo, unser befreundetes Ehepaar, das du ja auch kennst, Anna und Mario, haben in der Früh heimlich eine Geschenktüte vor die Tür gestellt. Die sind so ängstlich, die besuchen überhaupt niemanden. Ganz selten auch ihre Enkelkinder. Die Tests bringen keine Überraschung. Ich mache ihn nicht mit. Ich war vor wenigen Stunden beim Arzt, wurde getestet und ein weiteres Mal krankgeschrieben. So sitzen wir vergnügt zusammen bis tief in die Nacht. Wir scherzen und unterhalten uns über Gott und die Welt und das Virus. So unterschiedlich die Ansichten, so pragmatisch werden sie vorgetragen.. Wir streiten uns nicht. Es ist einfach ein angenehmes Beisammensein. Das sagen alle als sie gehen und sich für die Einladung bedanken. Ich bleibe über Nacht. Ich schlafe auf der Couch. Wie vor einem Jahr. Wie vor einem Jahr gibt es die Ausgangssperre. Diesmal allerdings nur für mich. Für mich den Nicht-Geimpften.

Silvesterabend. Jörg und ich treffen uns zu zweit. Wir wollen uns des alten Jahres entledigen. Wir gehen es ruhig an, nehmen wir uns vor. Ausschweifende Partys, wann wird es die wieder geben? Mit Spitzglas und weißem Schaum aus goldgeköpfter Flasche zur Begrüßung. Mit Wein und Schnaps und Bier und leckerem Essen bis in die Früh. Tine und Maxi hatten einst zu großartigen Festen in ihren großen Wohnungen gerufen. Es waren immer aufregende und anregende Nächte, bester Dancefloor bis zum anbrechenden Morgen. Brüllaut, hyperklar. Dieses Jahr machen sie auf Kleinfamilie, haben sie mir geschrieben. Ich ertappe mich, wie ich von einst spreche, als seien diese Jahreswechselfeiern in einem vorigen Leben geschehen. Dieses vergangene Jahr und das vorige Jahr dehnte sich für mich unendlich lang, dass all das Zuvor soweit und sofern für mich erscheint. Jörg geht es nicht anders. Zwölf neue Monate warten darauf, und zu weiter zu beherrschen. So ist unser Eindruck. Der Pejorationsprozess in unserer Sprache macht uns nachdenklich. Er zeigt uns, wie ehemals freiheitliche Worte im Laufe der vergangenen Monate ihren Glanz einbüßten und zu niedriger und gemeiner Bedeutung herabsanken. Individualist zu sein, vielleicht sogar quer zu denken, ist heutzutage etwas Degoutantes. Die Vormachtstellung ernsthafter Worte wird gefördert und erweitert in diesem merkwürdigen Land. Jeder Zwischenruf, es lebe der Ulk, klingt suspekt, als sei Spaß etwas Ungeistiges. Unter vier Augen sagen wir uns, wir bleiben uns treu, wir haben unser Sach auf Nichts gestellt. Über den Ernst unserer Konspiration unter vier Augen müssen wir lachen. Wir versuchen über die Neujahrsbläser zu lachen, die weiterhin das Virus beschwören. Sie blasen und blasen. Trübsal.

Bevor das Virus kam, zelebrierte Jörgs ehemalige Sekten-Gruppe ein jährliches Wiedersehen am Sylvester-Tag. Einmal im Jahr sich zu treffen, erzählt Jörg, war eine feine Sache. Öfter wollten wir uns nicht treffen, zu unterschiedlich waren unsere Wege geworden. Dieser Jahreswechsel ist allerdings das erste Mal, dass wir schon im Vorfeld zankten. Wie ich dir schon erzählt habe Carlo, die eine Hälfte ist Virus-ängstlich geworden, die andere wie eh und je spirituell geblieben. Es gab im Vorfeld eine Abstimmung, wie gefeiert werden sollte, ob alle zusammen, das wären dann 15 Personen gewesen, also mehr als erlaubt, oder in kleinen Grüppchen, die sich gegenseitig besuchen. Unter uns ist nur eine Frau, die es durchgehalten hat, sich nicht impfen zu lassen und mit täglichem Test zur Arbeit geht. Schon toll. Die wurde nun mit knapper Mehrheit der Stimmen ausgeladen. Ich habe dagegen protestiert. Du kennst ja meine Einstellung. Ich berichtete auch von meiner Arbeit, wo gerade zwei Arbeitskolleginnen positiv getestet wurden. Beide sind wohlauf, fühlen sich nicht krank. Müssen aber fern der Arbeit bleiben. Beide sind zweifach geimpft und geboostert, doch das Virus traf sie. Also nicht kleinlich sein, meinte ich, wir feiern alle zusammen und unsere Nicht-Geimpfte kommt auch dazu. Was kam als Antwort? Unter diesen Umständen ist es wohl besser Jörg, du kommst auch nicht. Jetzt kann ich rätseln, was den Ausschlag gab. Jeder in der Gruppe weiß, nur unter Druck habe ich meinen Arm hingestreckt. Die „Einrichtungsbezogene Impfpflicht“ ist für mich nichts anderes als eine Impfnötigung. Ich hätte ansonsten meinen Job in der Kita verloren. Das alles mit meiner Gruppe zu diskutieren, dazu hatte ich keine Lust. Ich bin einfach enttäuscht. Ich hatte erwartet, dass unsere Ängstlichen zumindest zur Kenntnis nehmen, was die Experten in den Hauptnachrichtensendungen plötzlich verkünden: „Der dauerhafte Alarmzustand ist ermüdend und wenig erfolgreich. Der Gedanke setzt sich langsam durch, dass wir einen pragmatischeren Umgang brauchen, um mit dem Virus leben zu lernen“. Du siehst, mir geht es nicht leichter als dir mit deinen Freunden. Auch ich kann ein Lied singen. Lies was ich gerne zur Diskussion gestellt hätte. Was der ehemaligen Leiter eines Uno-Influenza-Programmes zu sagen hat, spricht für sich: „Infektion heißt nicht gleich krank zu sein, Omikron vermehrt sich nicht mehr so tief in der Luge, meist nur noch in der Nase und im Rachen. All das sind Anzeichen an die Anpassung an den Menschen. Das sind ganz normale Anpassungsprozesse, die diese Tierviren, wenn sie auf den Menschen überspringen, durchmachen. Seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden ist das ein evolutionärer Prozess. Wie bei der Influenza wird sich ein Äquilibrium einstellen“.

Thema wechseln. Ich lache Jörg an. Schau was ich gekocht habe. Jörg schmunzelt zurück. Das ist bei dir ja wie bei den Nachrichtensprechern im Fernsehen Carlo, wenn zwei Meldungen nicht zusammen passen, sagt der Moderator einfach „Themenwechsel“ und weiter geht’s. Nicht ganz, Jörg, denn ich auch ich muss meine Infos zum Stressthema loswerden. Es gibt so wenige, mit denen ich darüber sprechen kann. Was für eine Zeit, sag ich immer wieder. Mir macht Hoffnung, dass die renommierten Medien die schon länger zurückliegende Zeitungsrecherche zu den Zahlenmanipulationen über Omikron-Erkrankte endlich aufgreifen. Du erinnerst dich, wie kreative Köpfe der Statistik einfach behaupteten, 90 Prozent der Erkrankten seien Ungeimpfte, obwohl bei 70 Prozent der Fälle gar keine Angaben gemacht wurden. Was für mich auch neu ist, man half außerdem statistisch etwas nach, um den Lockdown für Nicht-Geimpfte zu rechtfertigen. Einfach mit der Behauptung, die Ungeimpften-Inzidenz liege bei 1469, dabei hatte sie eine Höhe von 333,8. Der Zahlensalat empört nicht. So mein Eindruck, die Bürger nehmen es hin, wenn sie hören, überall auf dem Kontinent gibt es ausdifferenziertere Statistiken, wer in welcher Altersgruppe genesen ist, was Masken bewirken und auch nicht, wie Kinder auf Omikron reagieren. Ich kann die alltägliche Verwunderung über die profane Macht, ohne polemisch zu werden, nicht mehr verarbeiten. Ich will das dieses Jahr, dieses undehnbare Jahr, nicht Revue passieren lassen. Ich will es vergessen lernen. Klappe zu. Koniec filmu, wie es in meinem vorigen Leben im Abspann hieß. Also Jörg, gehen wir zum gemütlichen Teil über. Jeder ist losgeworden, was ihn bedrückte. Wir gönnen uns erst einmal einen guten Schluck Wein. Und noch einen. Wir können es nicht fassen, wie schwer es uns fällt, abzuschalten, Schalter schließen, umzuschalten.

Carlo, mit welchen Wünschen gehst du ins kommende Jahr? Erst einmal trinken, Jörg. Wegtrinken des Gestern. Wir gönnen uns einen guten Schluck. So, nun kann ich reden. Ich halte es mit dem alten Jesuiten-Mönch, antworte ich. Lass mich raten, „denken wie die Wenigsten und reden wie die Meisten“ willst du mir wohl sagen. Gut geraten Jörg, aber um dieses berühmte Zitat geht es mir heute nicht. Ich halte mich an der Empfehlung fest: „Wünschen aufheben lernen“. Es sind wenige Sätze, 400 Jahre alt, die es in sich haben, zumindest für uns zwei. „Etwas zu wünschen übrig haben, um nicht vor lauter Glück unglücklich zu sein“, empfahl dieser Mönch: „Sogar dem Verstande muss etwas zu wünschen und wissen übrig bleiben, was die Neugierde reizt und die Hoffnung belebt. Denn ist nichts mehr zu wünschen, so ist alles zu fürchten. Wo der Wunsch aufhört, beginnt die Furcht“ . Jörg und ich erzählen uns so manche Geschichte, wie wir in der ein und der anderen Lebenssituation mit Wünschen umgingen. Sie ignorierten oder auf Teufel komm raus umsetzen wollten. Wie wir an manchem Wunsch scheiterten, manchen schnell verwarfen. Die Stunden vergehen. Um wünschen zu können, braucht es den Zufall. Ihm liefern wir uns aus. Da sind wir uns einig. Darauf stoßen wir an. Nichts ist schrecklicher als planmäßig zu leben. Und noch schrecklicher ist es, die Zukunft planen zu wollen. Präventiv vorzubeugen, was kommen könnte. Es gibt keine Lebensabsicherung. Aber sag das einmal den Gesundheits-Apostel von heute. Jörg und ich sind auf gleicher Wellenlänge: Wer sich dem Zufall aussetzt, verteidigt sich gegen eine Gesellschaft, die ihn total vereinnahmen möchte. Mit dieser Quintessenz begrüßen wir das Neue Jahr. Drei Flaschen Wein sind geleert.

Es sind milde Wintertage. Die Sonne scheint. Es fällt kein Schnee. Ich bereite meine Kündigung vor. Mir vergeht die Lust zu arbeiten. Nach 35 Arbeitsjahren darf man in den Ruhestand. Mein Glück, die verfaulende Zeit hinter mich zu lassen. Ich möchte kein FFP2-Nine-to-five-Abstand-einhaltender-und-Verbote-umsetzender-Therapeut mehr sein. Ich will keine Dauerermahnungs-Automatenstimmen auf dem Weg zur Arbeit mehr hören und keine Masken-Arbeitsstunden mehr ableisten. Einen guten Rat gibt mir wieder der Mönch: „Nicht abwarten, bis man eine untergehende Sonne wird. Es ist die Regel des Klugen, die Dinge zu verlassen, noch ehe sie uns verlassen. Sogar die Sonne zieht sich oft, noch bei hellem Scheine, hinter einer Wolke zurück, damit man sie nicht versinken sieht und ungewiss bleibt, ob sie untergegangen ist oder nicht“. Einst schrieb ich, um die Welt um mich zu verstehen. Nun könnte ich sagen, nimm Abschied und gesunde. Gehe in den Ruhestand Carlo, dann hast du Zeit, „um die Lieblingsfehler im Geiste“ zu bearbeiten, wie der Mönch sagen würde. Diese Handvoll Zeit, die mir zugemessen ist, bevor mich der Tod anspringt, wie kann ich diese zur Hand nehmen? Ich bin gealtert seit das Virus kam. Meine Erinnerungen und Selbstblendungen nehmen zu. Sich erinnern ist eine Kunst, Schreiben eine andere. Einer der dies verbinden konnte, begab sich auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“. Und ich? Vielleicht habe ich das Glück meinen Kummer von der Seele, vom Magen, vom Kopf, von allen anatomischen Teilen wegschreiben zu können. Einfach hinsetzen und schreiben. Ob stammelnd, stotternd, lallend, ob mit altertümlichen Wortansätzen und unverständlichen Wiederholungen geschmückt, das sollte mir egal sein. Ich schreibe den Freunden und lüge sie an, um Ruhe vor ihnen zu haben, ich fahre nun auf unbestimmte Zeit in meine Geburtsheimat um zu mir zu kommen. Von meinen Schreibplänen sage ich nichts. Ich weiß ja nicht, ob ich durchhalte. Seit wann bin ich nur so ängstlich? Ohne ein Gran Kühnheit geht es nicht im Leben, hätte der Mönch gesagt.

Als ich jung war, da brauchte ich keinen Mönch als Ratgeber. Die Musik, die wir hörten, reichte zur Inspiration. Noch ein paar Bücher dazu und los ging die Reise. On the road again. „Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt darin um“, sangen wir mit unserem jugendlichen Wagemut. Unzählige Liedermacher und Songwriter, Jazzer und Rock n Roller gaben uns die nötige Zuversicht. Damals habe ich mich nicht geziemt mit Gegenworten, wenn mir etwas missfiel. Irgendwie war es leicht. Nun bin ich schlicht so sprachlos, dass ich nicht weiß wie ich es verarbeiten soll, wenn ich den neugewählten Ablöser von Madame M. prahlen höre: „Wir gehören zu den Ländern, die die präzisesten und weitreichendsten Kontaktbeschränkungsregeln festgesetzt haben“, sagt er voller Inbrunst. Das stimmt, bescheinigen Statistiker, nirgendwo auf der Welt, ausgenommen dem Virus-Ursprungsland, gibt es laut Stringency-Index etwas Vergleichbares an Regelwerk. Gründlichkeit kennt dieses Land. Warum nur wieder diese Singularität, die man hier so oft in der Geschichte einnahm? „Vollständig-geimpft“ war gestern. Das Neue Jahr fordert 2-G-plus, bestimmt der mächtige Regelwerk-Prahler. Ohne tagesaktuellen Test dürfen Geimpfte nicht ins öffentliche Leben. Sie müssen fern bleiben, „wo Masken nötig sind“. Was dieser Neusprech bedeuten soll, ist Auslegungssache, je nach Landesvogt. Wenige Orte erlauben ohne Plus einen Kneipenbesuch bis 22 Uhr. Die meisten verlangen das Geimpften-Plus für Kneipen, Sportstudios, Museen, Hallenbädern, Kinos, Skilifte, Grenzübertritte, Übernachtungen und vieles, vieles mehr. Ich will es nicht präzise aufzählen. Es wird weiter so gesprochen, als sei Omikron ein todbringendes Monster. Wie kann man nur medizinische Stimmen überhören, die von Krankheitserscheinungen sprechen, die bei dieser Variante vergleichbar sind mit Grippeerscheinungen. Wie es diesen 14 Millionen Bürgern ergeht, die aus welchen Gründen auch immer keine Piks hinter sich haben, interessiert nicht. Es fehlen Reportagen, es fehlen Interviews. Selber Schuld wenn er ausgegrenzt wird, erklärt der mächtigste Entscheider. Er gibt die Generallinie aus: „Es darf keine roten Linien geben, wir werden täglich prüfen, ob die rigiden Maßnahmen ausreichen“. Einst sprach man von „verbesserten, angepassten Maßnahmen“, dann vom „Nachbessern“, nun gilt „rigides Durchregieren“. Diese verschwommene Schuldzuweisung sagt mir, es gibt kein Halten mehr gegen Nicht-Geimpfte. Meine Gedanken zur Reichsacht werden wieder erweckt. Was kommt im neuen Jahr auf mich zu? Wird man Nicht-Geimpfte nur zu gewissen Stunden des Tages außer Haus lassen? Oder das Wahlrecht aussetzen, bis die drei Pikse wirken? Niemand weiß es. Vielleicht wird der Rote-Linien-Zeichner, so ausflippen, wie sein Amtskollege aus dem westlichen Nachbarland. Beide legen nach eigenem Bekunden höchsten Wert auf Korrektheit. Aber was ist mit der guten, alten Höflichkeit? Die wird ihnen lästig. Das Staatsoberhaupt aus dem Land meiner Jugendträume nahm kürzlich ein fäkales Wort gegenüber Nicht-Geimpften in den Mund, das so einzgartig vulgär war, dass die hiesigen Zeitungen es nicht zu übersetzen wagten: „Moi, je veux bien les emmerder les non-vaccinés“. Ich kann dem Staatslenker nur antworten: Bitte das nächste Mal etwas höflicher. Aber wenn du meinst, na dann, verpiss dich selbst.

Ich habe eine gute Nachricht Carlo, steht in der Betreffzeile. Meine Schwester hat mir geschrieben. Carlo, komm schnell zu uns in den Süden, steht in der Betreffzeile. Nada hat mir geschrieben. Beide teilen mir mit: Es gibt Grund zu feiern. Der  Verwaltungsgerichtshof im Voralpenland hat 2-G im Einzelhandel als verfassungswidrig erklärt. Komm shoppen! Eine Shopping-Enklave für Nicht-Geimpfte tut sich auf. Anders als überall sonst im Land, könnte ich dort einkaufen gehen. Ohne tagesaktuellen Test. Einfach hinein spaziert, wie früher. Nicht ganz wie einst, FFP2 müsste noch ins Gesicht. Brauche ich einen warmen Wintermantel und einen modernen Laptop? Mir fällt auf die Schnelle nichts ein, was ich kaufen könnte. Ich hab mich in der Hauptstadt alleinseinig eingerichtet. Ich will nicht reisen. Ich habe die Verordnungen verinnerlicht. Ich versuche nicht 2-G-plus zu umgehen und mich einfach in ein Café zu setzen und zu warten, ob ich rausgeschmissen werde.  So ruhig wie ich verhalten sich auch die hiesigen Verfassungshüter. Sie sprechen nicht über 2-G-plus. Sie schweigen. Nur der neue Gesundheitsboss kann es nicht lassen, täglich seine Botschaften auf allen Kanälen preiszugeben. Neuerdings spricht er gerne vom „vorpandemischen Zeitalter“ das nun abgelöst worden sei. Ich höre es im Radio unkommentiert. In den Qualitätszeitungen finde ich zu diesem Neusprech keinen Kommentar. Ich darf im stillen Kämmerlein orakeln, was damit gemeint sein könnte. Etwa das Nahen des Zeitalters des homo hygienicus? Ein Zeitalter mit freien Pflichten? Wie anders kann ich die Worte verstehen, die der Botschaften-Aussender vorhersagt: „Die Impfpflicht führt dazu, dass sich Menschen am Ende freiwillig impfen lassen“. Da bleibt mir nur, die Worte einer aristokratischen Dramatikerin aus der Belle Époque zu wiederholen: „Die glücklichsten Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit“.

Werde ich zum Zyniker? Das werden hoffnungslos Verzweifelte nur. Und doch sage ich mir in diesen Virus-Tagen, Carlo bediene dich an Bonmots als aktive Abwehrkraft: „Urgrund allen Humors ist der Einblick in die Absurdität der ganzen Welt“. Anhalten-Lernen, warten-lernen, auslachen-lernen, meine neuen Aufgaben. Lacher gibt es ja genug, wenn man dem neuen Gesundheits-Frontmann bei seinen wöchentlichen Pressekonferenzen zuhört. Er hat bei seinem Vorgänger abgeschaut und nimmt die gleiche Ballung an Paniktönen in den Mund. Am Ende der Pandemie werde es so sein, „dass die meisten Ungeimpften von heute entweder geimpft, genesen oder leider verstorben sind“. Die Verlautbarung kam zur Jahreswende. Die Gefahr werde mit Omikron von Tag zu Tag gefährlicher, demnächst gibt es „mindestens 400.000 Ansteckungen pro Tag“. Als die Vorhersage ausblieb, war das kein Grund zu einer polyphonen Wendung. Sein Auftreten erinnert mich an einen alten Schwarz-Weiß-Film, der alle Jahre wieder im Fernsehen ausgestrahlt wird. Da wird in einer Szene ein Irrtum-Verbreiter aufs Korn genommen: „Der Experte ist ein Mann, der genau weiß, wie alles kommen wird, und der hinterher genau sagen kann, warum alles ganz anders gekommen ist“. 

Dieser hartnäckige Gesundheits-Eiferer kann es nicht lassen, seine Monotonschleifen wie in einem Absurden Theater zu überdrehen. So verkündet er eines Abends in einer Talkshow mit unbeirrten Eigensinn:  „Wer zweimal geimpft ist, ist nicht geimpft“.  Was monatelang im ganzen Lande galt wird Makulatur. Nur wer sich noch eine dritte Impfung gibt, eben den neusprechenden Booster, darf sich fortan als vollständig Geimpfter bezeichnen. Die komikträchtige Entscheidung erwischt Millionen bislang „vollständig Geimpfte“ kalt über Nacht. Ihre bisherigen Rechte  werden beschränkt. Sie sind ja nur „grundimmunisiert“. So lautet der plötzlichen Neusprech. Die erste Doppelimpfung, einst „vollständig geimpft“ genannt, trägt nun den Namen „Grundimmunisierung“. Ein Definitionskarussell das selbst manchem linientreuen Landesvogt zu weit geht. Der bisherige Wortführer vom „Team Vorsicht“ fürchtet um seinen guten Ruf. Nun in der parlamentarischen Opposition, ändert er sein Sprachmaterial und erklärt kurzerhand, ab jetzt leite er das „Team Augenmaß“: „Wir brauchen Lockerungsübungen, wir müssen ein atmendes System finden“. Soll ich dieser Rhetorik Glauben schenken? Es ist noch nicht lange her wo dieser Wendehals im Kreis der Vorsicht-um-jeden-Preis-Fanatiker in „wissenschaftlichem Einklang“ die Forderung erhob „ein langanhaltendes Notstandsgesetz muss sein“. Eine allgemeine Impfpflicht sei das Gebot der Stunde, denn: „Vollständig Geimpfte sind vollständig immun“.

Ich höre keinen Aufschrei aus dem Kreis meiner Bekannten und Freunde. Tine schreibt es offen, meine Larmoyanz lässt mich schweigen, weil ich nur klagen würde. Ich bin zweifach geimpft, aber nicht geboostert. Was soll ich sagen. Was soll auch ich ihr antworten? Eine einfache Dreisatzaufgabe stellen? Wenn Sprechen Silber ist, was ist dann Schweigen, was wohl? Ich habe mich längst zurückgezogen, wie eine Schnecke in ihr Haus. Ich schreibe wenige Emails in diesen Tagen, noch seltener greife ich zum Telefon. Und den Gesundheits-Frontmann, diesen Zeitgenossen mit samt seinen eigenen Ängsten, Verdrängungen, ausbleibenden Liebschaften, abendlichem Rotweintrinken und bitteren Gesichtszügen, nehm ich einfach mehr ernster als einen Affen in der Manege. Er gefällt sich im Club jener Moralisten, die sich jedes Vergnügen versagen, außer jenem, sich in das Vergnügen anderer einzumischen. Seine Moral dem ganzen Land überzustülpen heißt sein Gesellschafsspiel. In Interviews macht er sich Vorwürfe, zu einseitig zu essen, jeden Tag Wein zu trinken und zu viel schwarzen Kaffee. Er lebe als Single, betont er gegenüber Journalistinnen, und habe keine Zeit für Frauen. Zahlreiche Verehrerinnen würden ihm deshalb schreiben. Leider habe er keine Zeit in diesen verantwortungsvollen Tagen ihnen zu antworten, da er nachts viele Studien zur Viren-Entwicklung lese und diese wissenschaftlich auswerte. Der Solist erklärt dann in vollem Ernst: „Ich muss mich bei all denjenigen Frauen, die mir persönlich geschrieben haben, dafür sehr entschuldigen, was ich hiermit tue“.

Ralf schreibt mir. Nichts hat sich geändert, von den 254 Fest-Angestellten, erzähle Thea, gibt es gerade noch 4 Impf-Trotzige. So kannst du dir vorstellen, Carlo, da wird alles gut befunden, was die Entscheider tun. Und Thea fühlt sich so in die Enge getrieben, dass sie einfach schweigt. In anderen Redaktionsstuben ist es wohl kaum anders, schreibt der Freund. Er verfolgt aufmerksam was in anderen Ländern an Lockerungen und Erleichterungen vorbereitet wird. Seinen Frust versucht er in Humor zu verwandeln: Carlo, es ist so einfach, außerhalb unserer Grenzen wütet ein anderes Virus als hier. Deshalb ist die die Konsequenz folgerichtig: Wer eine Virus-Erkrankung durchgemacht hat, bekommt ab jetzt nur für 3 Monate das Statusrecht eines Genesenen. Glaube einfach an die Begründung, die du hörst: „Die Neubewertung  aus wissenschaftlicher Sicht erfordert diese Maßnahme“. Man setzt sich kurzerhand über die Entscheidung des Kontinental-Parlaments hinweg, das für alle Mitgliedsstaaten gerade eine 6-monatige Genesen-Gültigkeit aussprach (Welt-TV, 26.1.2022, 11:20)  Im Land meiner Geburt sind es sogar 12 Monate. Die Hochalpen-Wissenschaftler bleiben dabei: „Die Infektion ist die Immunisierung schlechthin, dieser Wahrheit kann man sich nicht entziehen, auch nicht mit einzelnen Publikationen, die man dann in die ein oder andere Richtung interpretiert “.

Ich bleibe derzeit jeder Demonstration fern. Es ist mir zu kalt und nass und ich mag keine verbotenen Spaziergänge. Einen Schlagstock will ich auch nicht spüren. Ralf und Jörg reihen sich nicht ein. Sie wollen keine Konfrontationen mit der Polizei. Gewaltszenen sind zum Alltag geworden, seitdem kaum ein öffentlicher Protest mehr genehmigt wird. Es wird trotz Verbot an vielen Orten demonstriert. Ich erinnere mich nicht, dass je zeitgleich an so vielen Orten Demonstrationen stattfanden in diesem Land. Woche für Woche. Bei dieser Kälte. Und trotz landesweiter Verbote. Mancherorts gibt es Gegenwind abseits der Polizei. „Mein Körper gehört mir – ich will keinen Piks“ steht gegen „Wissenschaft statt Verschwörung  - Impfen statt Schimpfen“. Auch die Impfbefürworter versammeln sich unangemeldet und spontan zu Spaziergängen. Auch sie zeigen sich mit religiösen Symbolen, Herz- und Friedenszeichen. Von ferne betrachtet gleichen die Impfanbeter äußerlich den Impfverdammern. Sie untermalen ihre Proteste mit gleicher rockiger Musik. Nur in den Parolen unterscheiden sich die Gruppen. Sie sprechen von Impfrecht und vom Glück der Impfstoff-Entdeckungen. Sie fordern ein Impfrecht für alle Bürger ab 18. Manche wollen ein Impfrecht ab 12. Das Wort Impfpflicht nehmen sie nicht in den Mund. Das hat wohl kein Science-Fiction-Autor vorhergesehen, wie ein Impfrecht, zum Recht auch derer werden soll, die dieses Recht nicht haben wollen. Welch feuchter Traum geht da für die Pharmaindustrie in Erfüllung, denke ich, als ich davon höre. Diese Recht-Einfordernden sind zahlenmäßig stets klar in der Minderheit. Auch sei sind lautstark und rasseln und trommeln wie ihre Kontrahenten. So bekomme ich es erzählt. Ich bin froh, dass sich Impfrechtfanatiker und Impfdiktaturschimpfer bislang nicht an die Gurgel gehen. Die Spaltung der Gesellschaft ist noch friedlich. Darüber bin ich erstaunt. Denn selbst das Staatsoberhaupt verhält sich nicht neutral. Zumindest nicht für mich. Wie er spricht, bereitet mir Kopfzerbrechen: „Der Spaziergang hat seine Unschuld verloren“. Ich übersetze: Alle Proteste sind gleich, aber manche sind gleicher.

 Ich schließe mich erst einmal keinem Protest an. Es ist mir zu platt von Impfdiktatur zu sprechen. Trotz einseitiger Berichterstattung in zu vielen Medien sehe ich die Pressefreiheit nicht bedroht. Die wichtigsten internationalen Zeitungen, deren Sprache ich verstehe, finden klare Worte zu Bürgerrechten und staatlichen Übergriffen. Es fehlt an keinen warnenden Stimmen vor dem tiefer werdenden Graben zwischen zwei Klassen. Jener Seite, die ihren Lebensunterhalt mit ihren Händen verdienen muss und jener, die mit Zoom und ähnlicher Technik in einer digitalen Welt ohne Abstriche ihrer Arbeit nachgehen können. Als unverhältnismäßig beschreiben diese renommierten Blätter wie Proteste von LKW-Fahrer niedergeknüppelt werden, weil sie eine Impfung verweigern und für ihre Körperfreiheit Straßenblockaden errichteten. Da machte ein Staatslenker in Übersee kurzen Prozess. Ohne vorherigen Gerichtsbeschluss wurden Bankkonten von all jenen eingefroren, die sich an Anti-Impfpflicht-Protesten beteiligten oder diese auch nur durch Spenden unterstützten. Weite Medienproteste waren die Antwort. Unverhältnismäßig und für eine westliche Demokratie ein beispiellos brutaler Akt. Das lese ich digital. Auch ich nähere mich mehr und mehr der digitalen Welt. Auf der Straße setze ich kein eigenes Zeichen. Ich bin abgeschreckt. Nada hat seit Monaten keine Kundgebung mehr genehmigt bekommen. Das Infektionsgeschehen erlaube keine Versammlungen unter freiem Himmel in der Fußgängerzone oder an belebten Plätzen. Illegal will Nada nicht auf die Straße. Ich auch nicht. Noch nicht. Sollte eine allgemeine Impfpflicht wegen diesem mittlerweile grippeähnlichen Virus verhängt werden, dann suche ich die Revolte. Doch schon jetzt mit mehrheitlich Hartgesottenen zu spazieren, will ich nicht. Sie sprechen nicht meine Sprache: „Wir sind einfach klar denkende Bürger“. Dieser Wahrheitslogik folge ich nicht. Die ist nichtssagend. So sprechen auch die Impf-Freudigen. Nach Jahren der Dauerberieselung mit Angst und Schrecken ist das Virus zum Mythos geworden. Jeder bedient sich der Beschreibung, die er für sich passend findet. Es ist legitim, von der objektiv heimtückischen und lebensbedrohlichen Gefahr zu sprechen. Die regelsetzenden Ordner und Gebieter gaben es den Bürgern vor, was aus objektiver Erkenntnis folgt: „Jede objektive Erkenntnis enthält einen Anspruch auf legitime Herrschaft“, kann ich in meinen klugen Büchern lesen, „so nimmt die Legitimierung durch die Macht Gestalt an, sie legitimiert was Wissenschaft ist und was Recht“. Ich glaube den Meinungsumfragen, wonach die Mehrheit der Bürger weiterhin die Machtvergrößerung des Staates zur Bekämpfung des Virus begrüßt. Die Mehrheit nimmt es auch hin, was für sie gilt, gilt lange nicht für die Mitglieder des Hohen Hauses. Der Genesenen-Status für Parlamentarier hat weiterhin für 6 Monate seine Gültigkeit. Es brauche diese Ausnahme, wird gesagt. Ich grüble, wie kann das sein, dass die Frauen und Männer im Hohen Haus nicht wie alle anderen Bürger nach 3 Monaten ihre Genesung verlieren? Dann fällt mir ein: Politprofis besitzen eben die wortwörtliche Immunität.

Über Vorzugsrechte kann ich lachen. Mit der sozialen Erpressung der Verbote kann ich leben. Ich soll mürbe gemacht werden und mich impfen lassen. Ich weiß nicht, wenn mein Trotz mich verlässt. Wenn ich die Kategorie wechsle. Jetzt wird mir Anstand abgesprochen, wer weiß, wenn ich ihn wieder bekomme. Schon mit zwei, drei Piks? Ich bin bescheiden geworden in meinen Ansprüchen. Oder lethargisch auf meine Weise. Von Jörg und Ralf bekomme ich regelmäßig Links zu Impfnebenfolgen, Bettina übersetzt medizinische Studien zu Impfschäden in verständlichere Sprache. Doch beides überfliege ich nur. Es ist einfach zu viel für mich, all den Widersprüchen nachzugehen. Hellhörig werde ich allerdings, als ich aus zwei englischsprachigen Fachzeitschriften Auszüge bekomme, wonach Forscher herausgefunden haben, anders als von den Herstellern versprochen, baut sich die messenger Ribonukleinsäure nicht im Körper ab. Diese mRNA-Stoffe seien bei Geimpften noch 60 Tage später entdeckt worden. Und das ausnahmslos. So habe man beschlossen, Alarm zu schlagen und die Untersuchungen zu veröffentlichen. Die Wissenschaftler zeigen sich besorg, was das für ein langes Leben bedeuten könnte. Anfragen zur Stellungnahme an das zentrale Impfstoff- und Arzneimittelinstitut und das staatliche Krankheitsüberwachung und – Präventions-Institut blieben bislang unbeantwortet. Beim Recherchieren sehe ich, es sind anerkannte Forscher und seriöse Fachschriften mit langer Tradition, in denen die Studien gerade erschienen. Ich bin verunsichert. Bis jetzt war ich nur reserviert gegenüber der Impfkampange. Ich merkte zwar, keiner meiner geimpften Freunde bekam einen Beipackzettel über Risiken und Nebenwirkungen, wie ansonsten üblich. Das nahm ich nicht so genau. Ich hatte für mich politische Gründe, mit den Piks zu warten. Doch nun frage ich mich, warum finde ich auf allen Podcast-Seiten der Qualitätsmedien und Fernseh-Magazinen nur diese Auskunft: „Die im Impfstoff enthaltene mRNA baut der Körper in wenigen Tagen wieder ab. So kann es zu keinen Langzeitfolgen des Impfens kommen“.

Ich übe mich im Warten und Überwintern. Mein Körperrecht will ich vorerst behalten. Ich glaube nicht an die reinigende Wirkung die mir mit den Piksen versprochen wird: „Eine Impfung für alle kann eine reinigende Wirkung haben“, prophezeien Entscheider und Journalisten, „denn damit wird Klarheit geschaffen, alle Maßnahmen werden fallen und wir haben alle unsere Freiheiten wieder“. Wie oft gab es Versprechen, die gebrochen wurden? Soll es diesmal anders sein? Um diesem Nationalsingspiel Nachdruck zu verleihen haben sich Stadtverwaltungen ein Lichtspektakel einfallen lassen. An Tagen, an denen sogenannte Querdenker zu unangemeldeten Spaziergängen aufrufen, werden Laser-Schriftzüge an Amtsgebäude gestrahlt. Die Worte sollen Mut machen, lese ich in den Zeitungen: „Wissenschaft – Solidarität – Demokratie – Zusammenhalt – Vernunft wird siegen“.  Ich hätte schon Lust diesem Lasar-Spektakel beizuwohnen. Dafür müsste ich mit dem Rad weit in die Innenstadt fahren. Dann könnte ich auch gleich demonstrieren gehen. Keines von beidem passt mir in dieser grauen Zeit. Die bleiernde Zeit nannten wir es einst, als der Staat schon einmal zeigen wollte, wie stark er ist. Damals machten keine Spaziergänger die Straßen unsicher, es waren selbsternannte  Stadtguerilleros und Tupamaros, die die Staatsgewalt herausforderten. Die Entscheider nannte man damals Bonzen. Die Querdenker nannte man damals Sympathisanten. Das politische Klima war rauer als jetzt. Und doch sehe ich verbale Parallelen. Vor allem wenn ich eine Qualitätszeitung zur Hand nehme, die zu den Stadtguerillero- und Tupamaro-Zeiten stets zur Besonnenheit mahnte und das Wort „Sympathisant“ in Anführungszeichen setzte, um zu zeigen, Staatsmacht stecke nicht alle autonomen Linken unter eine Decke. Jahrzehnte später gibt es für „Querdenker“ keine Anführungszeichen. Dafür Hetze. Ich kann es nicht anders benennen. Da will ein Schreiberling herausgefunden haben, dass es unter Virus-Leugnern Mode geworden sei, auf einschlägigen Messenger-Diensten nach Teststäbchen von Infizierten zu suchen. Es gäbe regelrecht Tauschbörsen für Teststäbchen mit Viruspartikeln. Die Verschwörungsgläubigen würden diese „bewusst selber in die Nase schieben“, mit dem Ziel, „auf diese Weise den Genesenen-Status zu erreichen und so die Impfung zu umgehen". Daran könne man erkennen,  diesen gesellschaftlichen „Selbstausgrenzern“ gehe es „allein um die Abschaffung der Demokratie“. Der Text ist groß platziert als Feuilleton-Aufmacher. Der Leser kann ihn nicht übersehen. Leider ist es kein Debattentext, auf den man antworten könnte. Vielleicht eine Gegenposition anbringen dürfte. Ich verfalle beim Lesen wieder in meine Erinnerungsnostalgie. Wie schön war nur die Zeit, als ich in „Der Anderen“ und in „Gegenstimmen“ meine Meinung ausbreiten konnte und dieser gleich widersprochen wurde. Pro und Contra auf einer Zeitungseite. Das ist bei der Virus-Frage nicht angedacht. Der leitende Redakteur fühlt sich im Recht und dankt dem Staatslenker des westlichen Nachbarlandes für dessen Fäkalausdruck gegen Impfskeptiker, „er habe Lust sie anzukacken“. Endlich klare Worte, ruft der Jakobiner aus: „Wann übernimmt ein deutscher Politiker die gleiche rüde Wortwahl und ruft den Impfverweigerern zu: Ihr geht mir ordentlich auf den Sack, verpisst euch“. Es sei die Zeit gekommen, „laut zu werden“ und der „bizarren Welt“ der Ungeimpften, die sich „hermetisch von der Realität abschotten“, die Stirn zu bieten. Die Quintessenz des Wutschreibers: „Statt sich immer nur darum zu sorgen, dass sich Impfgegner nicht noch weiter radikalisieren, sollte das Augenmerk allmählich dem wachsenden Zorn und Frust der Geimpften gelten“.

Geimpfte aller Länder vereinigt euch! Oder soll ich zurückschreien, verpisst euch? Wie viele Zeitungstexte darf ich noch an mich heranlassen, um nicht in Polemik und Gegenwut zu versinken? Was für eine Verzweiflungsfrage. Ich will lesen. Ich will schreiben. Das Schlimmste im Leben ist, nicht teilzunehmen. Ich nehme teil. Das war über Jahrzehnte mein Motto. Ein Plakat gehörte zu meiner Grundausstattung, wo immer ich mir eine Wohnung auf Zeit einrichtete. Ich erwarb es während des Studiums. Ich hängte es stets an die Toilettentür. Da hängt es heute wieder in meiner Küche-Stube-Wohnung: „Zahme Vögel singen von Freiheit. Wilde Vögel fliegen“, steht darauf. Es ist ein Wahlaufruf einer Partei, der ich heute meine Stimme verweigere. Einst stand ich ihr sehr nahe. Ich verdanke manchen Spitzenfunktionären sehr viel. Vor allem Petra, die sich für meine Freilassung wegen staatsfeindlicher Propaganda großartig einsetzte. Sie starb Jahre später durch Kopfschuss im Schlaf. Würde sie noch leben, sie wäre entsetzt über die Einschränkungen der Bürgerrechte, die ihre Nachfolger im Parlament beschließen. Davon bin ich überzeugt. Wir gingen dagegen jetzt gemeinsam auf die Straße. Ganz unter uns als linksalternative Gruppe. So träume ich zumindest. Petra hätte nie so einen verengten Gesundheitsausschnitt akzeptiert, der 2-G als alternativlos propagiert. Sie hätte die Panikmache und Angstdauerverbreitung scharf kritisiert. Nimm Abschied und gesunde, höre ich nun in mir, die Zeit ist dafür reif. Du hast dich von Aljoscha verabschieden müssen und von Petra und manch anderem, der dir nahe stand. Du verabschiedest dich innerlich immer mehr von dem was die Neue Normalität mit sich bringt. Abschied-Üben ist angesagt. Das ist dein Schicksal, sagt die Stimme und will nicht verstummen. Mein Verstand widerspricht. Was für die Generationen vor mir galt, gilt längst nicht mehr. Damals ging es nicht um leben, sondern um überleben in einer schrecklichen Epoche. Dünne Haferschleimsuppen kannte jeder. Und jeder wurde Zeuge von Krieg und Vernichtung. Manch einer auch von einer tatsächlich schweren Pandemie. So hatten meinen Ahnen recht, wenn sie sagten: „Die Zeiten des Glücks sind die leeren Seiten im Buch der Weltgeschichte“. Ich lebe nicht in der gewaltigen Weltgeschichte, sondern stecke in einer lauen Virusgeschichte. Da gilt eine andere Erzählung. Wie ich sie benennen könnte, mir fehlen die Worte. Ich leuchte mit keiner Laterne. Ich kann mich nicht entscheiden, wohin ich ausbrechen sollte, jetzt als baldiger Ruheständler. Ich spüre keine Sehnsucht für das heitere Land, in dem Zitronen blühn und im dunklen Laub die Orangen glühn. Nein, gen Süden bringt mich derzeit weder Ochs noch Esel. Die Impfpflicht ist dort schon angekommen, für Jahrgänge wie meinem. Ich müsste nach Norden fliegen, wo ich die Sprachen nicht kenne und nie ein Mädchen küsste. Vogel flieg lehrte mich Tante Ester, flieg einfach. Als hätte sie es mir erst gestern gesagt, kommen mir ihre Worte in den Sinn. Frag nicht zu lange, sei stets einen Tag früher. In ihrer untergegangenen Sprache sagte sie kurz und knapp: „Ess schpirt nit der fojgl di masse fun sajne fligl“.

Der Chef-Wissenschaftler des Gesundheits-Frontmanns, seines Sternzeichens Wassermann, feiert Geburtstag. In der halbstündigen Hauptnachrichtensendung um 21 Uhr 45 wird deshalb der „großartigen Verdienste“ des Professors gedacht, der dem staatlichen Krankheitsüberwachung und – Präventions-Institut  vorsteht (so Eigendefinition RKI). Bevor das Virus kam, kannte ihn keiner. Seitdem hat er seinen Schreibtisch mit einem Podium vertauscht. Zu seinen Presserunden eilen die Journalisten gerne. Selten stellen sie kritische Fragen gestellt, zumindest nach meinen Kriterien. So schlägt er sich gut. Und so wundert es nicht, nicht, wenn es im Fernsehen heißt: „Wer im Sternzeichen des Wassermanns geboren ist gilt als kreativ und tolerant, als ehrgeizig und zielstrebig“. All das und noch viel mehr verkörpere das Geburtstagskind. Es sei eben Wassermann, „und die Attribute passen, ein Glücksfall für das Land“. Ich  hätte nie gedacht, dass Sternzeichen-Deutungen eines Tages für Seriosität im Qualitätsfernsehen herhalten würden. Ging nicht das Zeitalter des Wassermanns unter als Jupiter gen Mars zuging? Nun sollte ich mich fragen, wann kommt neben der Sendung mit der Maus, die Sendung mit der Horoskopen-Deuterin. Diese Mischung aus beliebigen Wissenschaftssequenzen, von fäkal-vulgären Ausdrücken und einer nicht enden wollenden Willkür an Gesetzesbeugungen, findet einfach kein Ende. Ein neues Gutachten des wissenschaftlichen Expertenrates der Parlamentarier wird einfach für nichtig erklärt. Die Wissenschaftler fanden heraus, „besonders schwerwiegend ist derzeit die Krankheitslast der Kinder und Jugendlichen, ausgelöst durch Lockdown-Maßnahmen“. Der Gesundheits-Mahner lapidar ohne Gegenbeweise vorzulegen: „Depressionen dem Lockdown in die Schuhe schieben, das geben die Studien nicht her“.

Fernsehen gehörte noch nie zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Radiohören und Zeitungslesen war meine Welt. Nun klammere ich mich an jedes Presseprodukt, das die Sterne anders deutet. Es werden mehr, zum Glück. Ich habe das Gefühl, die Zahl der Qualitätszeitungen, die etwas auf Distanz zum alternativlosen Neusprech gehen, nimmt zu. Keine von ihnen ist allerdings links ausgerichtet, dort wo das Herz sitzt. Ich suche nach jedem Sprach-Strohhalm den ich finde kann. Ich lese sorgfältig und manche Stellen mehrmals. Das tat ich einst nur als angehender Journalist. Damals las ich penibel die Texte, um mich zu schulen und meinen Stil zu verbessern. Nun bin ich alt und will keine Schulung mehr. Und doch ergötze mich, wenn ich in einem Blatt lese, von dem ich es nicht erwartet habe, der Wassermann und der „Angst-Minister“ hätten ihre Kompetenzen überschritten. Studien zeigten, dass Genesene einen sehr guten Immunschutz haben. Wenn 26 Länder auf dem Kontinent den Genesenenstatus für mindestens 6 Monate gelten lassen, dann kann man dies „nicht abtun und behaupten, die Wissenschaftler all dieser demokratischen Länder irren sich“. Es werden Studien zitiert, auf die in diesem Land offiziell nicht eingegangen wird. Danach kann der Impfstatus bei Omikron aufgehoben werden, weil dieser keine Rolle mehr spielt. Geimpfte und Nicht-Geimpfte sind gleichermaßen ansteckend für alle. Immer mehr Länder verzichten daher auf Einschränkungen und feiern die alte Freiheit wieder. Warum wählte ich einst dieses Land der kontinentalen Trendgegner? Zahlreich sind die Berichte, die glaubhaft erklären, da für das Gesundheitswesen keine Überlastung mehr besteht, es nicht einmal eine Belastung gibt, sei es „unverantwortlich ein Bedrohungsszenario ins Blaue hinein aufzubauen, es könnten ja bald wieder viele Tote zu beklagen sein“. Keine Studien ließen dies vermuten. Sätze wie Honig für mich. Was für ein Sensationshascher bin ich nur geworden. Ich amüsiere mich über eine Zeitungsnotiz, wonach manch einer von Testzentrum zu Testzentrum zu laufen hat, weil er positiv bewertet wurde. Denn ein Positiv-Ausschlag auf dem Messstäbchen sei hoch bei diesem Omikron, auch wenn man gar keine Virenlast habe. Wer dann abends ausgehen möchte wo 2-G-plus gilt, hat dann als Geimpfter Pech. Er muss solange herumirren, bis ihn ein Tester wieder einen Negativen-Abstrich ausstellt. Eine weitere Anekdote, die mich zum Schmunzeln bringt: Da Apotheken nicht nachfragen dürfen bei einem Erkrankten und dann Genesenen, ist er geimpft oder nicht-geimpft, stellen sei die Genesen-Beglaubigung prinzipiell auf 6 Monate aus. Das gefällt den regelsetzenden Ordner und Gebieter gar nicht. All das behalte ich für mich. Ich bin mir sicher, Peter könnte ich damit nicht umstimmen, manch anderer würde mir zurückschreiben, wer hämisch lacht, den soll es sardonisch treffen. Manch anderer gäbe mir den Rat, impfe dich einfach Carlo, dann hast du Ruhe. Ich will nichts hören. Keinen Rat von keiner Seite. Denn wie sagt der Volksmund: Ratschläge sind auch Schläge.

Ich mache auf Funkstille. Ich bleibe in der Aussperrung. Abseitsstehen muss gelernt werden. Lockdown-Übungen gelingen nicht über Nacht. Ich lass die Freunde im Glauben, ich sei noch in der Ferne unterwegs. Mit diesem selbstauferlegten Alleinsein hoffe ich mich zu rüsten auf Zeiten, die noch kommen könnten. Was nützt mir, wenn ich lese, jenseits der Landesgrenzen bekommen überall die bislang Namenlos-Ausgestoßenen wieder Rechte zurück. Hier im Häusergestein bekommen die Lockdown-für-Ungeimpfte-Gesetze keine Risse. Sie halten stand. Für Genesene und Geimpfte wir über Erleichterungen gesprochen. Zaghaft. Einige Zeitungskommentatoren wagen sich vor. Sie fordern „ein Ende der Beschränkungen“  und präsentieren „Fakten für die Freiheit“: Omikron sei fast fünfmal weniger tödlich als Delta. Das zeige sich daran, „dass weniger als einer von 1000 Omikron-Infizierten, also 0,089 Prozent, an der neuen Varianten stirbt“. Dank der Impfung, wird hinzugefügt. Studien zeigten außerdem, weniger als 2 Prozent der Ansteckungen kämen aus Schulen, so solle man den Pennälern bitte mehr Freiheiten geben. Das hätten die Eltern verdient. Der Piks für ihre Zöglinge müsse honoriert werden. Ich lese sogar Sätze wie: „Und die Impfquote ist nicht so niedrig, wie die offizielle Statistik sie ausweist – also gebt uns mehr Freiheit“. Alles recht und gut, denk ich, und was bleibt für mich? Nicht ungeduldig sein, Carlo. Vielleicht ist es ein gutes Zeichen, was in Aussicht gestellt wird. Es wird darüber diskutiert, ob in fünf bis sechs Wochen auch Nicht-Geimpfte wieder zum Friseur gehen könnten. Das Recht für gepflegtes Haar sollte man den Uneinsichtigen schon zurückgeben. Natürlich nur, wenn sie sich einem tagesaktuellen Anti-Viren-Test unterziehen. Eintritt nur mit Test und Maske.

Noch bevor ich zum Haareschneiden komme, kommt für mich unerwartet die Ankündigung: „Die Reise auf dem Weg zur Freiheit leiten wir jetzt ein“. Ende gut, alles gut? Es klingt auf den ersten Blick wie eine Erleichterung, als ich im Radio höre, man wolle es wie in anderen Ländern „wagen“ nach so langer Zeit, die Verordnungen „auf breiter Front“ zu streichen. Allerdings mit einem „Basisschutz“, an dem keiner rütteln dürfe, „denn es wird wieder eine kalte Jahreszeit kommen“. Anstatt zur Frühlingsblüte zu ermuntern und die länger und wärmer werdenden Tage zu preisen, ertönen gleich wieder kalte Worte der Vorsicht. Diese regelsetzenden Zauderer und Hasenfüße können es einfach nichtlassen, ihrem Eigensinnweg treu zu bleiben. Sie sehen die Mehrheit ihrer Wähler hinter sich. Zwei Drittel der Bürger wollen nach Umfragen nach wie vor keine Maskenfreiheit. Sie suchen den starken Staat. Die pflichtbewussten Untertanen beugen sich der Pflicht. In den Zeitungen kann man lesen, in den Nachbarländern gibt es nirgends einen „Basisschutz“, Masken sind weg und alle anderen Einschränkungen. Wieder einmal in der Geschichte, diese komödiantisch unangenehme Obrigkeitsstaatstreue, warum ereilt sie mich in meinen alten Tagen!

Mischa bekommt die Basisschutz-Pflicht jeden Tag zu spüren. Er ist raus aus der Kurzarbeit, das Taxi-Unternehmen, bei dem er als Ausbilder arbeitete ist pleite. Das Arbeitsamt gibt ihm gerade eine Umschulung zur Museumsaufsicht. Von Montag bis Freitag hat er einen Weiterbildungskurs. Eine Stunde Fahrzeit hin zum Bürogebäude, eine Stunde zurück. Stets mit FFP2 im Bus. Mischa ist sauer. Ich bin zweifach geimpft und geboostert, ich habe alles mitgemacht, was man von mir verlangt hat und trotzdem muss ich mich nun jeden Tag testen lassen. Schon irre. Und stell dir vor Carlo, wir sollten am Platz, und wir fünf Kursteilnehmer sitzen weit auseinander, diese Maske aufbehalten. Wir mussten kämpfen um zumindest am Platz eine Befreiung zu bekommen. Auch der Dozent kämpfte mit uns. Auch wenn wir diesen Kampf für uns entschieden haben, werden wir auch nach dem Auslaufen der allgemeinen Einschränkungen weiterhin tagesaktuelle Tests machen müssen. Das ist schon beschlossene Sache. So will es einfach unsere Kursleitung. Unternehmen dürfen künftig selbst entscheiden, ob FFP2 oder nicht, ob Testung oder nicht. Ich habe mir Freiheit anders vorgestellt.

Meinen Enkel Emil trifft es kaum weniger hart. Immer noch dreimal in der Woche Testung und blaue Maske am Platz. So soll er lesen und schreiben lernen. Ich sehe für mich keinen Anreiz, wieder arbeiten zu gehen. Ich will nicht in einem Alltag mit FFP2 und Testung. Ich habe genug der Disziplinierung. Die Schüler sollen sich von klein auf daran gewöhnen eine Maske gehört wie Schal und Mütze im Winter dazu. Schal und Mütze dürfen im Klassenzimmer abgelegt werden, das Läppchen bleibt stundenlang im Gesicht. Eigenweg muss sein. Der Gesundheits-Frontmann hält an seiner Mantra fest, es war gut, das einzige demokratische Land auf dem weiten Erdball gewesen zu sein, wo es nie ein Aussetzen von Masken gab, über all die Jahre hinweg. Überall sonst gab es zumindest Monate mit frischer Luft. Ich darf in den Zeitungen weiterhin seine Beschwörungen lesen: „Das beste wäre, es gäbe kein Auslaufdatum für eine Maskenpflicht“. Aber dafür gäbe es bald keine rechtliche Grundlage mehr, so könne er nur an Einzelhändler und Supermärkte appellieren, „ihr Hausrecht zu nutzen, um Kunden weiter zum Maskentragen zu zwingen“. Wie froh kann ich sein, dass in der weiten Welt das Virus auf die Gefährlichkeit eines Grippe-Virus abgestuft wird und so rechtlich Einschränkungen zurückgefahren werden müssen, wenn auch nur in Trippelschritten. Und mit der Hintertür in diesem Land,  künftig mit einem „Instrumentenkasten“ und „niedrigschwelliger Hygienemaßnahmen“ den Alarm aufrechtzuhalten. Welch langen Atem die Verbote nur haben! Ich will einen freien Atem. Wie in meiner Geburtsheimat. Wie in meiner Balkanheimat. Dort lacht man über den Instrumentenkasten. Das ärgert wiederum die Virusvögte, wie überall auf dem Kontinent ihr Vorsichtsweg abgelehnt wird. Nur widerspenstig ziehen sie nach, um nicht noch lächerlicher zu wirken. Doch an manchen Stellen wollen sie trotzen. Wie kleine Kinder. Das ist mein böser Blick auf dieses Land. In meinem Geburtsland lebt es sich wieder wie vor der Virus-Erscheinung. Ich müsste Mischa anrufen und sagen, lass uns in die Berge fahren und uns besaufen, wie einst der Literat empfahl, wir sehen uns nach dem Krieg im Kelch. Aber nein, ich sitze allein in meiner kleinen Küche-Stube-Abgeschiedenheit und frage mich, wann darf ich meine Maske absetzten. So zaghaft gehe ich den Alltag an. Ich ertappe mich, wie ich an diesem kalten Wintertag den Lenz und Sommer überspringe und an den kommenden Schnee denken, wo der Basisschutz zur allgemeinen Impfpflicht werden soll. So will es der neue Schrittmacher in den Fußstapfen von Madame M. Ich zeige ihm den Stinkefinger in meiner Stube. Ich fluche. Dieser Impfpflicht-Moralist! Ich wiederhole des Dichters Wort: „Moral nennt man das Laster der Mehrheit“.

Ich verändere meinen Instrumentenkasten. Ich nehme die niedrigschwelligen Hygienemaßnahmen selbst in die Hand. Ich wage eine lächerliche Mutprobe. Das muss sein. Ich muss einen Freiraum im öffentlichen Raum selbst abstecken. Ich stecke ab jetzt, wenn ich die Wohnung verlasse, nur noch die blaue Medizinische ein. Die FFP2 bleibt im Schrank, wie Mütze und Schal. Die haben im Frühjahr auch nichts mehr auf meiner Haut verloren. Ich zeige mein Gesicht. Ich probiere wo ich nur kann, den freien Blick. Ich muss anecken. Wer will, soll mich prüfen, ob ich ein Attest habe und die Ausnahme sein darf, ohne Maske zu sein. Eine Ausnahme, die ich kein einziges Mal mehr sah, seit der erste Schnee fiel. Ich glaube was ich in der Zeitung lese, ein Drittel der Bürger sei „resigniert, antriebslos, manövrierunfähig, entnervt und seltsam niedergedrückt aufgrund der Pandemie-Jahre“. So steht es in einem aktuellen Bericht, der auf „Basis tiefenpsychologischer und repräsentativer Befragung“  erstellt worden sein soll. Weniger als ein Viertel, 22,6 Prozent habe in der Befragung angegeben, wieder zu der Lebensfülle und Risikobereitschaft wie vor der Pandemie zurückkehren zu wollen. 30,5 Prozent hätten an sich eine gewisse Antriebslosigkeit beobachtet, 29 Prozent hätten an einigen Dingen die Lust verloren, die ihnen früher Freude bereitet hätten. All das trifft zu für mich. Ich schlucke tief.

Ein Stahlgewitter zieht auf (es beginnt der Ukraine-Krieg).....