Ein Stahlgewitter zieht auf. Über Nacht. Der Tod gibt mir ein Zeichen seiner Gegenwart. Der Zar im großen Ostreich tritt mit einer Brandrede vor sein Volk und verkündet die große Schlacht: Morgen sprechen die Kanonenrohre und fliegen die Bomben. Endlich! Endlich Krieg! Der Tag ist gekommen, erklärt der Zar, das Regime im südlichen Nachbarland in einer militärischen „Spezialoperation“ zu zerschlagen. Krieg muss sein. Über die Jahre hinweg sei eine „absolut nicht hinnehmbare Bedrohung“ entstanden. Es wurde eine „aktive militärische Erschließung der an unser Gebiet angrenzenden Territorien begonnen“. Dagegen müssen wir einen „präventiver Schlag“ ausführen. Das Sortiment an Tötungsgerät ist imposant, das aufgefahren werden soll. Das Schmuckstück der Sammlung sind Atomsprengköpfe, von denen niemand weiß, kommen sie, kommen sie nicht bei zu großer Gegenwehr zum Einsatz.
Im Gossen-Jargon rechtfertigt der Zar seine unfriedliche Landnahme mit dem Vorwurf: „Das Regime vor unserer Haustür besteht aus Nazis und Drogensüchtigen“. Die müssen besiegt werden, ansonsten „droht uns bald ein Genozid“. Auch das noch in meinem Leben! Verkehrung von Bedeutungen werden zu Maximen und die gezielte Verdrehung von Geschichte und Gegenwart zur Legitimation für Verbrechen. Demokraten als Nazis zu beschimpfen und einer demokratischen Gesellschaft den Krieg erklären, was wird noch geschehen an politischem Irrsinn in meinem Leben. Ist ein Ausnahmezustand vorbei, kommt der nächste. Nach Eigensinnweg mit Maske nun Sonderweg mit Waffengang. Auf in den Todesweg! Welches Warngedicht kann ich da entgegensetzen? Eines Dichters Sarkasmen und Ironien fallen mir ein, geschrieben gegen Verhärtung und verfasst, um widerlegt zu werden: „Zu den Steinen hat einer gesagt: seid menschlich. Die Steine haben gesagt: wir sind noch nicht hart genug“.
Der östlichen Verhärtung folgt die westliche. Wir werden alles für die Freiheit tun, höre ich nun als neue Dauerschleife, wir werden unsere Armeen ausbauen und den Verteidigern alle notwendigen Waffensysteme überreichen. Oh Zar, warum bist du nur so gegenwartsblind. Dein Beschwören von Größe und Einmaligkeit setzt bei deinen Gegnern eine Maschinerie in Gang wie einst im Kalten Krieg. Eine Zaren-Diktatur mit Knechtschaft anderer Völker wieder aufleben zu lassen ist zum Scheitern verurteilt. Die Weltgeschichte kennt keine unverzichtbaren Machtzentren. Tief ist das Meer der versunkenen Großreiche. Das müsstest du wissen. Du wirst auf lange Sicht verlieren. Ich bemitleide mich. Auch ich werde verlieren. Ein Handelskrieg wird ausgerufen, ein vollständiger Warenboykott und den Ausschluss der Ostreich-Banken aus den globalen Geldgeschäften. „Wir werden durch diese Maßnahmen alle ärmer werden“, erklären die Minister für Wirtschaft und Finanzen, „aber das muss sein, das muss uns die Freiheit wert sein“. Wieder ein Das-muss-Sein. Wie oft habe ich es in den vergangenen Jahren gehört. Das Repertoire an Neusprech-Begriffe vergrößert sich um „Inflationsgefahr“ und „Wohlstandsverlust“ und „unvorhersehbare Erschütterungen“. Über das Virus spricht keiner mehr. Der Evaluationsbericht über Sinn und Unsinn des zweijährigen Eigensinnwegs lässt auf sich warten. Schlechtes Zeugnis für den Eigensinn gibt es bereits von der Weltgesundheitsorganisation. Trotz der strengen Verbote und Verordnungen kamen sieben Nachbarstaaten, die kürzer oder gar keine 3-G-Gesetze kannten, besser durch die Virus-Krise, mit weniger Toten, Schwererkrankten und Folgen für Kinder und Jugendliche.
Ich genieße das Internet. Auf einmal. In mehreren Übersetzungen kann ich die Ansprachen herunterladen. Der Zarensprache bin ich nicht mächtig, ich wollte sie nie lernen. In jeder Version verstehe ich die einzelnen Worte und kann doch nicht die vorgetragene Legitimation zum Töten, zur Verwüstung der Städte und der Warnung vor einem Atomkrieg nicht fassen. Wie konnte ich nur glauben, die Exotik und Mythen unterm surreal-sozialistischen Stern verstanden zu haben. Eines besseren werde ich belehrt. Der Kriegsführer kann sich sicher sein, sein militärischer Strategiezug wird beklatscht und bejubelt werden. Endlich Krieg! Endlich Tod und Ruinen! Endlich kommt die Entscheidungsschlacht, wird die große Mehrheit der Untertanen rufen. Zumindest vorerst. So kann es nicht weitergehen, dass wir „militärisch umzingelt“ werden von Kräften, die uns die „Ideologie des Liberalismus“ überstülpen wollen. Erst friedlich, doch wenn das nicht klappt, mit Waffengewalt. „Wir wissen uns zu wehren“, verkündet der Zar, „wir sind ein großen und stolzes und unbesiegbares Volk“.
Verdammt, verdammt, wie konnte ich in all den vergangenen Jahren vergessen und verdrängen, was ich in einst zu meiner journalistischen Reifezeit so konkret vor Augen hatte? Im Politmagazin hatten wir damals große Angst, das Zarenreich könnte jederzeit von der Doktrin der Status Quo Großmacht ablassen. Die liberalisierende Glasnost und Perestroika der Vorgänger als „wesensfremd für das Zarenvolk“ erklären und sich in einem Sonderweg sich als Revisionsmacht aufspielen, die dem Liberalismus westlicher Vorstellungen den Kampf ansagt. Auch mit militärischen Mitteln. Und diese Entscheidung ist nun gefallen. Und ich habe die Vorbereitungen nicht bemerkt. So fixiert war ich in den vergangenen zwei Jahren auf die rechtsbeugenden Virus-Ordner und ihren Eigensinn! Wie lächerlich wirkt nun das kleine Intervall meiner Grenzperspektive, angesichts dieser wuchernden Erzpest! Jetzt sitze ich da und jammere wieder einmal, warum macht mich die Geschichte in meinem Alter zum wehrlosen Zeugen einer furchtbaren Niederlage der Kultur und des wildesten Triumpfs der Brutalität? Die Geschichte hätte sparsamer meinen Lebensbogen abschließen können. So habe ich es mir gewünscht. Doch was macht sie. Ich muss erst Rechtsbeugungen erleben und dann zusehen, wie ein Verrückter und seine Clique keinem Recht mehr folgen, stattdessen einem ganzen Kontinent ihre Regeln aufzuzwingen trachten. Ungemütlich wird es auf der Zuschauerloge des Alters, merke ich. Des alten Anarchisten Reim aus untergegangen geglaubter Zeit trifft meine Stimmung: „Das Reich hat sich abgeschminkt, befreit von Rouge und Puder, steht eklig da das Luder und faucht und stinkt“.
In meiner Jugend, als mir der Bart zu sprossen begann, meinetwegen damals, hätte die Geschichte mir die fahlen Rosse der Apokalypse schicken können. Aber nicht jetzt bei ergrautem Bart und gleich am Anschluss an das Virus-Panikspiel. Jetzt greife ich wieder zu Büchern, diesmal zu welchen, die im Keller lagern. Memoiren von Staatsmännern, die mir zu schade waren wegzuwerfen, aber zu langweilig zu lesen. Nun lese ich in „Menschen und Mächte“, vor Jahrzehnten von einem Sozialdemokraten geschrieben, eine Einschätzung die genau auf heute passt: Über Jahrhunderte waren die Zaren „von der Legitimität der Ausdehnung ihrer Herrschaft überzeugt, eine Überzeugung, die für sie im Verlauf ihrer Geschichte selbstverständlich geworden ist“. Diese Einstellung herrsche noch immer vor, in einer Region in der „kaum jemals breite Gesellschaftsschichten persönliche Freiheit erlebten“. Das wirke verstörend für manche in unserem Land, vor allen in dem Teile des Bürgertums der in der Geschichte und leider auch noch heute im „politischen Romantizismus“ verharre. Einer meiner engsten Vertrauten hat es richtig erkannt, schreibt der einflussreiche Zeitzeuge, „Politik war für uns mehr eine Sache des Glaubens als der Vernunft“. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Krieg schon gar nicht. Der beliebte Staatsmann meinte das Großreich im Osten gut zu kennen. Seine Erinnerungen erschienen, als der Perestroika-Häuptling noch unangefochten die Zügel in der Macht innehielt. Wohlwollend kann ich in den Memoiren über ihn lesen: Es könne sein, dass seine Reformen scheitern werden, was den Demokratisierungsprozess verzögern könnte, „aber sein Aufräumen mit den Geschichtslegenden ist nicht rückgängig zu machen“. Wie irrte sich in diesem Punkt der Elder Statesman. Geschichtsklitterung ist angesagt.
Geschichtsklitterung, wie bekannt ist mir dieses Phänomen. Als der Bruderkrieg auf dem Balkan tobte, war er für mich so alltäglich. Und doch glaubte ich wie der Elder Statesman, den ich zwei Mal zu Hintergrundgesprächen treffen durfte, nie an einen solchen Flächenbrand, wie ihn der jetzige Zar zu entfachen beginnt. Im Politmagazin hielten wir einen Kriegsausbruch für möglich, aber unter einer „vorsichtigen Expansionsstrategie“, wie ich nun in den Zeitzeugen-Memoiren nachlesen kann. „Begrenztes Risiko“ nannten die Machthaber ihr Konzept von dem wir Redakteure im Auslandsressort überzeugt waren. Wir brachten unsere Thesen groß heraus und wurden in politischen Kreisen dafür meist als Sensationsschreier und Panikmacher belächelt. Aus dem Headquater unserer Militärallianz hatten wir allerdings exklusive Interna, der östliche Verlierer der Geschichte werde seine Niederlage nicht tatenlos hinnehmen. Doch das war erstmals nicht zu sehen. Eine Gesellschaft nach der anderen verabschiedete sich vom Großreich und ging eigene Wege zu neuer Freiheit und Wohlstand. Sie durften ziehen und ihr neues Glück suchen. Fast alle. Die Gesellschaften nahten sich denen an, in denen ich meine Kindheit und Jugend verbrachte. Die aufregenden Umwälzungen ebbten ab. Ein Jahrzehnt nach annus mirabilis war vergangen. Was einst anders war, glich sich an. Gleiche Supermärkte, gleiche Mode, gleiche Glaubenssätze und Werte. Der Augenblick schien günstig, vom Journalismus abzuspringen. Jens Daniel war verstorben, die Bedeutung des Magazins gesunken. Neue Medien wurden zur großen Konkurrenz. Und ich fand keine neuen Themen mehr. Jeder der lange im Zeitungsgetriebe eingebunden ist, kennt das Gefühl, irgendwann wiederhole sich nur, was man so oder so ähnlich schon einmal erlebt und aufgeschrieben hat. Wenn man beim eigenen Schreiben das Echo von Geschichten und Wortbausteinen hört, ist die Zeit gekommen um aufzuhören. Ich konnte mich endlich der Psychotherapie widmen. Im Alltäglichen wollte ich wirken, die große Politik als Beobachter verlassen. Ich aktualisierte mein Psychologie-Studium und ging in manche spannende Weiterbildung. Politisch vertraute allen die sagten, im Zarenreich gibt es Anzeichen für eine langsame Annäherung in Richtung unseres Lebensgefühls und Freiheitsinns. Es dauere dort wohl etwas länger, aber die Richtung stimme. Das Dominanzstreben, das habe ich noch im Ohr, sei zwar eine Wunschvorstellung im Zaren-Kreis, aber die Machtlenker wüssten und spürten genau was neue Realität geworden sei. Die Doktrin des „begrenzten Risikos“, so die Umschreibung für indirekte Einmischung in Staatsgeschäfte der Nachbarn auf einem Niveau unterhalb eines offenen Konfliktes, habe man ad acta gelegt. Die Globalisierung besorge nun den Rest. Dieser Meinung schloss ich mich kurzerhand an. Das war bequem, das merke ich jetzt. Es gab manchen Aufschrei wenn Demonstranten niedergeknüppelt und manch ein Regimekritiker vergiftet wurde. Manche Petition unterschrieb ich mit, die Bürgerrechtler aufsetzten und mir in Freundesforen zugeleitet wurden. Aber darin ein Anzeichen einer Kriegsideologie zu sehen, ein ganzes Land von der Landkarte verschwinden zu lassen, soweit ging im Land des politischen Romantizismus nahezu niemand. Ich schloss mich den Wegschauern an. Nun kann ich fluchen im Chor der Ahnungslosen: „Verdammt sei der Verstand, der nach dem Feuer kommt“.
In welches Jahrhundert werde ich nur zurückgeboomt! Plötzlich kommt der Neusprech von der kommenden Deglobalisierung, der Inflation und dem Ende des Wohlstands. All das, weil ein Zar ein Großreich wie vor über hundert Jahren errichten will. Ich kann es einfach nicht glauben. Wer kann so verrückt sein, was einst beim Niedergang des Roten Stern im kleinen rechtsextremen Spektrum erträumt und von der damaligen zaristischen Oligarchie als unzeitgemäß beiseite geschoben wurde, nun nachholen zu wollen? Die Gründe von einst sind noch offensichtlicher als damals. Davon war ich überzeugt. Es ist vorbei mit großen Imperien, es ist vorbei mit gewaltsamen Grenzverschiebungen. Das Spiel auf Leben und Tod ist out. Die Jugend will nicht Soldat spielen, außer an einer Playstation. Klub- und Partyleben sind in. Die Jungen wünschen sich Wohlstand, wollen chatten und in die weite Welt hinaus. Könnten die zwei Wilhelme aus dem Grab schauen, sie würden es nicht glauben, wie ein Zar die Zeit zurückdreht. Noch vor wenigen Monaten schrieb ich in mein Tagebuch: Ich lebe in keiner gewaltigen Weltgeschichte, sondern stecke in einer lauen Virusgeschichte. Schon eine langweilige Zeit, immer der gleiche Trott, immer der gleiche Ton zur Vorsicht, zum Abstandhalten zu anderen, zum Allein-für-sich-Bleiben. Aber besser so als in Zeiten von Krieg und Not zu leben wie einst die geliebten Tanten und Onkel. Von ihnen habe ich den Satz im Ohr: „Die Zeiten des Glücks sind die leeren Seiten im Buch der Weltgeschichte“.
Am liebsten würde ich jetzt in ein Flugzeug steigen ohne Rückticket. Auf der anderen Seite der Kugel ruhen. Einmal im Jahr nachlesen, was ist los in der alten Heimat. Wenn ich merke, der Spuk ist vorbei, dann lass ich mich im Reisebüro beraten, ob sich eine Rückreise lohnt. Leider ist die Geschichte kein Touristenbus, wo man an verschiedenen Jahrestagen nach Lust und Laune aussteigt und nach Jahren wieder zusteigt, als sei in der vergangenen Zeitspanne nichts gewesen. Oder doch? In der Zeitung lese ich den Vorschlag „Rentner sollen im Süden überwintern – um Energie zu sparen“. Langzeitreisen könnte man bezuschussen, um so die „energiepolitischen Herausforderungen“ besser zu bewältigen. Hintergrund sind Ankündigungen des Zaren, seinen Öl- und Gashahn gegenüber den „unfreundlichen Regierungen“ abzudrehen, die mit ihrem Warenboykott und Geldtransferverbot seine Wirtschaft in die Knie zwingen wollen und so ein beschleunigtes Kriegsende. Ein wirtschaftliches Sanktionspaket nach dem anderen wird gegen den Mörder-Zaren umgesetzt, mit der Nebenwirkung, dass manche Preise in meinem Kiez in einer Schnelligkeit steigen, wie seit den Jahren des zweiten Wilhelm zuletzt. Die Rente kommt der Inflation nicht hinterher. Eine Verarmung scheint zu kommen. Kritik zum Langzeitreisen-Appell allerdings auch. Wenn zu viele Alte das Land in der Heizperiode verlassen würden, „dann könnte dies Kaufkraft kosten“. Soll heißen, geringere Konsumgüterproduktion und weniger Steuereinnahmen für den Staat. Die Abgaben für Strom und Energie sind weit und breit die höchsten. Auch in der neuen Zeitenwende soll es dabei bleiben.