Worum es mir in dieser Krise geht

(Vorbemerkung geschrieben besonders für Menschen, die aufgrund ihrer ganz anderen persönlichen Betroffenheit auf meine persönliche Betroffenheit schließen:

Es ist offensichtlich, dass folgende Themen und Werte unverständlich und falsch sind für Menschen, denen es in dieser Krise vornehmlich darum geht, die Verbreitung des Virus einzudämmen und Ansteckung zu vermeiden. Ich möchte diese Menschen bitten, kurz innezuhalten, ob diese Werte nicht aber doch - auch in ihren Augen - wertvoll sind und auch in Krisenzeiten gepflegt werden sollten. Auch sind es schlicht die Werte und Themen, mit denen ich mich in meinem Leben schon lange befasse und bis zu einem gewissen Grad kompetent bin, unter anderem meine Masterthesis dazu verfasst habe, weshalb ich es auch als meine Aufgabe ansehe, mich um sie zu kümmern.)

Aus politischer und sozialpsychologischer Sicht leben wir in einer für mich unglaublich spannenden Zeit, wie ich sie in meinem Leben noch nicht miterlebt habe. Die Vielfalt von Werten und Themen, die wir außerhalb der "Krise" in der demokratischen Gesellschaft loben und für die wir kämpfen, die Aufforderung, sich auf das Grundgesetz zu beziehen, die Forderung nach Ehrlichkeit und Transparenz in der Politik, und danach, uns als mündige BürgerInnen zu behandeln, wird nun als Angriff auf das Gemeinwohl und die Solidarität empfunden. Über 90% der Menschen stehen hinter Regierungspolitik und Dekreten und haben die kritische Distanz und Misstrauen, das sie möglicherweise zuvor den PolitikerInnen gegenüber hegten, vollständig abgelegt. Das ist in meinen Augen ein ganz unglaublicher Prozess, der aber psychologisch nicht verwunderlich ist. In der Politik ist dieser Mechanismus natürlich bekannt und wird genutzt, siehe unter anderem den Videobeitrag von 3sat vom 6.4., etwa ab Minute 03:09: In einem geleakten Dokument aus dem Innenministerium hieße es: „Man müsse die Bürger schocken, auf dass sie mit der Politik als Einheit agierten, dann könne die Krise für eine ganz neue Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat sorgen.“
(Quellen:
https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/abschied-vom-grundgesetz-100.html
https://fragdenstaat.de/blog/2020/04/01/strategiepapier-des-innenminist…)

Es ist also eine Politik der Angst, über die sich eine Regulierung und Gleichschaltung erreichen lässt, die ohne diese Angst nicht denkbar gewesen wäre. Norbert Elias und Michel Foucault (neben vielen anderen) haben solche Prozesse beschrieben und ich werde an anderer Stelle geeignete Passagen aus meiner Masterarbeit dazu verarbeiten. (Während wir von Angst getrieben sind, glauben wir keine Zeit für solche Reflektionen zu haben. Aber warum? Wir verhalten uns wie Menschen aus früheren Phasen der Menschheitsgeschichte, die jederzeit von einem Tiger oder Räuber angegriffen werden konnten. Wir leben in ständiger Angst, von dem Virus angesprungen zu werden.)

Ganz allgemein ging es Elias und Foucault dabei immer um Rationalisierungen und Rationalitäten (bei Foucault auch Diskurse), die den Boden bereiten für neue Disziplinierungen und Realitäten. 

Elias hat versucht ein langfristiges Muster zu erkennen, weshalb er vom "Prozess der Zivilisation" spricht.

Diese Diskurse zeichnen sich durch eine besondere Totalität in der Sprache aus, für die bevorzugt Verallgemeinerungen und Tilgungen verwendet werden à la: 

Es wird alles getan, um die Schwächsten zu schützen. Alle müssen dasselbe tun und wollen, wer das nicht tut, ist unvernünftig und ein Gesellschaftsfeind. 

Wie immer wird dabei gern mit dem Vernunft-Begriff gearbeitet: Wer die Rationalisierungen versteht, ist vernünftig, die anderen sind die Unvernünftigen. Auf diese Weise musste der Vernunftbegriff schon für alles herhalten, vom Kommunismus bis zum ungebremsten Kapitalismus, in allen Religionen, sofern sie einen universalistischen Anspruch haben, leider auch häufiger in der Demokratie-/Menschenrechtsbildung. Etwas Ähnliches geschieht gerade mit dem Solidaritäts-Begriff: Es gibt nur noch eine eindeutige Form von Solidarität, wer hier nicht spurt, ist automatisch unsolidarisch, unabhängig davon, ob er vielleicht solidarisch seiner Arbeit im Pflegeheim nachgeht.

Foucault hat untersucht, wie wir über solche Risiko-Rationalitäten regiert werden bzw. uns selbst regieren und darüber neue Technologien, Programme und Institutionen installiert werden. Hashtag "Neue Normalität" heißt das heute. Foucault nannte es Normierungs- und Normalisierungsprozesse. Es gibt zu dieser Dynamik schon viele Beispiele in der Geschichte der Zivilisation, Foucault analysierte unter anderem die Pest. 

Manche dieser neuen "Normalitäten" sind schon deutlich erkennbar, bei manchen werden wir erst später aufwachen, weil wir die in der alten Normalität niemals für möglich gehalten hätten, manche werden wir wohl gar nicht bewusst wahrnehmen wie in der Parabel von den zwei Fischen*.

Am 20. März, noch ganz am Anfang der „Maßnahmen“ schrieb ich:

wer denn aber eigentlich von der aktuellen und noch weiter gehenden Entwicklung profitiert, wem nützt das denn? "Der Wirtschaft" auf den ersten Blick ja nicht. 

auf die Schnelle würde ich das in zwei Stichworte fassen: Digitalisierung und Überwachung. Oder eins: Big Data.

Wir erleben einen ernormen Schub und weitere Aufwertung von "social media" statt sozialer Nähe und Direktkommunikation, von Digitalisierung und "Internettisierung" aller Bereiche: Schule, und alle anderen Formen von (Weiter-)Bildung, shopping, bargeldloser Verkehr, homeoffice, entertainment und infotainment, Abschaffung von print medien, kein Körperkontakt sondern "cyber-kontakt" ... die Liste ließe sich sicherlich noch lang weiterführen.

Bei den Überwachungs- und Kontrollmechanismen erleben wir einen enormen Schub in dem Prozess, denn Foucault die "anti-nomadische" Technik nannte: Menschen orten und verorten. Die zunehmende "Mobilität" noch mehr in die gewünschte Form bringen, oder anders: Mobilität oder auf den ersten Blick "Nomadentum" ist möglich, gerade weil die Techniken der Verortung immer ausgefeilter werden: die präzise Situierung und Erkennung des Individuums. Diese anti-nomadische Form von Mobilität wird nach Corona wieder aufgenommen werden. Willkommen in der Welt des Post-Panoptikons.

Am 21.03. ergänzte ich zur Frage nach den Profiteuren in der Wirtschaft:

Meine Liste möchte ich heute ergänzen durch etwas, das ich (angelehnt an Norbert Elias) "Monopolisierung" nenne: Ich dachte "auf den ersten Blick profitiert 'die Wirtschaft' nicht", aber so allgemein stimmt das ja nicht: Alle kleinen Einzelhandelsgeschäfte müssen schließen, schon vorher ist ein Großteil der Menschen primär in die großen Handelsketten wie Aldi, Lidl, Edeka und Co. gegangen, jetzt gibt es nur noch diese und sie machen einen Wahnsinnsprofit (nicht zuletzt durch Hamstern). Die wenigsten privaten Restaurants, Cafes, können einen wochen- oder monatelangen Shutdown abfedern, überleben und letztlich profitieren werden nur die großen Ketten wie McDonalds, Starbucks und Co.

Ich glaube an dem Digitalisierungs- und Big-Data-Schub zweifelt jetzt niemand mehr. Und dem damit einhergehenden Profit der „Monopolisten“ in diesem Feld wie Amazon, Google, Facebook und Co. Ein wichtiges Feld, das es dazu zu ergänzen gibt, ist das wir eine weitere enorme Konzentration von Reichtum und Macht in der Pharma-, Gesundheits- und Hygiene-Industrie erleben werden. Manche sprechen daher schon von einer Hygiene-Diktatur.

K lar ist, dass wir einen neuen Standard im

Auszeichung in der DDR


erleben werden, von dem die Regierenden des noch nicht allzu lang vergangenen Einheitsstaates nur träumen konnten.

*Schwimmen ein alter und ein junger Fische nebeneinander her. Sagt der alte Fisch zu dem jungen: Na, wie ist das Wasser heute. Lange keine Antwort. Schließlich fragt der junge: Welches Wasser?