Ich habe mich in der letzten Zeit ein bisschen mit Begriffen wie Risiko und „Risikogesellschaft“ befasst und ein paar Thesen dazu notiert:
Die Risikowahrnehmung und Risikoforschung spielt in jüngster Zeit eine deutlich größere und andere Rolle als zuvor seit ihrer Entstehung in den sechziger Jahren und ihrer Hochzeit in den achtziger Jahren.
Die Risikoforschung entstand mit den wissenschaftlich-technologischen Fortschritten und der Gefährlichkeit ihrer Folgewirkungen – die anders als frühere Folgegefahren kaum noch überblickbar sind und sich durch Irreversibilität und Globalität auszeichnen.
In den Neunziger und Nullerjahren entwickelte sich in den Sozialwissenschaften jedoch auch eine These, nach der nicht mehr (nur) von faktischen Risiken, die objektiv durch technologische, ökologische, gesellschaftliche Entwicklungen entstehen, ausgegangen wurde, sondern reflektiert wurde, dass eine Risikowahrnehmung immer auch eine Konstruktion ist, eine Setzung von Normen, die zueinander gewichtet werden.
(Vgl. Gotthard Bechmann (Hrsg.): Risiko und Gesellschaft, 1993, S. VII)
Mit der Corona-Pandemie wird diese Sichtweise zumindest im öffentlichen Diskurs weitgehend ausgeblendet.
Die von dem Virus ausgehende tödliche Gefahr wird nicht als Konstruktion und Normensetzung reflektiert.
Genausowenig ist eine Diskussion wahrnehmbar, in der die Ursachen von Zooonosen thematisiert, analysiert und minimiert werden sollen – lässt man die Entwicklung von Impfstoffen davon mal ausgenommen.
Die zentralen Elemente der Risikoforschung:
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Bestimmung/Messung einer Gefahr,
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Bewertung von Schäden,
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Festlegung von Sicherheitsbestimmungen zur Eindämmung des Risikos und die Überwachung dieser Bestimmungen
dominieren unser gesamtgesellschaftliches und alltägliches Leben in einem nie gekannten Ausmaß. Die Gefahr scheint nicht auf bestimmte Gesellschaftsbereiche, Institutionen, Risikogruppen eingrenzbar, folglich betreffen die Maßnahmen jeden, überall, die Gefahren-Eindämmung hat eine alternativlose Priorität vor allen anderen möglichen Risiken unserer Weltgesellschaft.
Mit dieser gesamtgesellschaftlichen Ausweitung eines Forschungszweigs ist unsere Gesellschaft tatsächlich zur „Risikogesellschaft“ geworden.
Ein anderer, die Transformation vielleicht noch treffender fassender Begriff ist der der Präventionsgesellschaft. Ich recherchiere den Begriff Prävention.
„(...) nach der ersten Schockstarre schlug die Stunde der Prävention: "Flatten the curve" war der erste Slogan in der Pandemiebekämpfung. Alle Anstrengungen gingen dahin, die Zahl der Ansteckungen möglichst gering zu halten. (…) Anders gesagt: es ging darum ein Ereignis in der Zukunft abzuwehren, das schlimmer schien als die Gegenwart.“
https://www.br.de/kultur/corona-pandemie-praevention-100.html
Aus: "Prävention. Die Macht der Vorbeugung" von Ulrich Bröckling: „Was Prävention kennzeichnet, könnte man sagen, ist ein aktivistischer Negativismus. Prävention ist er auf der einen Seite immer negativ. Sie will etwas verhindern. Sie will erst mal nicht etwas Positives schaffen, sondern etwas Schlimmes verhindern. Und sie wartet dabei nicht dazu ab, sondern das führt zu einer enormen Aktivität. Es wird unendlich viel getan, um diese künftigen Übel, diese künftigen Bedrohungen zu verhindern. Insofern liegt das Augenmerk ganz auf der Zukunft, in der Gegenwart finden sich allenfalls die Vorzeichen, die dann das Handeln im Hinblick auf die Zukunft anleiten und lenken können."
"Die Verbindung [von der Beste-Welt-ist-verwirklicht-Vorstellung a la Fukuyama] zur Prävention ist vielleicht die, dass auch das Präventionsdenken, sich von der Vorstellung eines historischen Fortschritts zum Besseren verabschiedet hat.“
https://www.br.de/kultur/corona-pandemie-praevention-100.html
Dem stimme ich nicht zu: Es ist wohl auch eine große Hybris (technokratischer Kontrolle und Kontrollierbarkeit), wie jetzt davon ausgegangen wird, dass Prävention in diesem Maß und auf diese Weise möglich ist - dass „jeder Tote einer zu viel ist“, was von vielen als moralisches Maß diktiert wurde.1 Was wäre Hybris und Omnipotenzwunsch wenn nicht die Vorstellung, den Tod selbst überwinden zu können? Ist nicht „die Hoffnung, nicht sterben zu müssen“ (Pierre Legendre) Sinnbild menschlicher Machbarkeitsphantasien?
Was, wenn nicht Phantasien von Macht und Machbarkeit bringt Menschen zu der Überzeugung, dass ein Virus von der Gefährlichkeit des Corona-Viruses so radikal eingedämmt werden muss - und dass Viren sich auf diese Art (primär: die Entwicklung von Impfstoffen in Hochgeschwindigkeit) effektiv und nachhaltig eindämmen lassen?
Diese Hybris beruht aus meiner Sicht sehr wohl auf einem Welt- und Menschenbild, nach dem dieser immer besser, immer mächtiger werden kann, der Mensch heute Möglichkeiten zur Verfügung hat, die ihm früher eben fehlten, weshalb er keine so guten Möglichkeiten zur Bekämpfung von Seuchen hatte wie wir heute.
„Sicherheit und Gesundheit sind Grenzbegriffe, sagt der Soziologe Ulrich Bröckling. Wenn diese Begriffe ins Zentrum der Diskussion rücken, dann führe das "zu einer Dramatisierung. Die Gesundheit ist immer bedroht, die Sicherheit ist immer in Gefahr." Und die wiederum zu immer neuen vorbeugenden Sicherheitspaketen.“
https://www.br.de/kultur/corona-pandemie-praevention-100.html
Mit der heutigen auf Gesundheit und Prävention ausgerichteten Gesellschaftspolitik hat sich der alte Kampf zwischen Freiheit und Sicherheit klar zugunsten der Sicherheit entschieden.
Artikel in der Zeitschrift der Bundeszentrale für Politische Bildung „Apuz“ wie dieser von 2005: Auf dem Weg in die Präventionsgesellschaft?
„Im Zuge einer funktionalen Verselbständigung verwandelt sich Prävention in ein autonomes Teilsystem.[4] Jede Kritik an der Effizienz, jeder Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit dieser Maßnahmen perlt an dem apodiktischen Schutzpanzer der Präventionsrhetorik ab. Mit ihr lässt sich zuweilen sogar die apokalyptische Vision einer Gesellschaft, die in wuchernder Kriminalität erstickt, an die bürgerliche Fassade malen. Sie dient als Vorlage für jene Argumentation, dass die Präventionsanstrengungen weiter verstärkt und verschärft werden müssten, weil sie nicht (mehr) ausreichten.[5] So kommt es, dass der öffentliche Begründungsaufwand für neue Präventivmaßnahmen verschwindend gering ist und die dahinter stehende Präventionslogik nicht mehr Gegenstand kritischer Diskussionen ist. Die Abwehrmaßnahme gegen die Gefahr werde zu einem Beweis für die Gefahr, wie der Schriftsteller Peter Schneider beklagt.[6]“
https://www.bpb.de/apuz/28688/auf-dem-weg-in-die-praeventionsgesellschaft#fr-footnodeid_7
Oder dieser aus der taz von 2015:
„Unsere Zukunft ist die Präventionsgesellschaft, mit allen Risiken, die sie birgt. Welche Risiken sind das? Das größte Risiko ist, dass aus der Chance, die die Prävention unzweifelhaft bietet, eine Pflicht wird und aus der Pflicht ein Zwang. Im schlimmsten Fall wäre derjenige, der das Präventionsangebot nicht nutzt, plötzlich beweislastig, weshalb er es nicht wahrgenommen hat.“
https://taz.de/Ethiker-ueber-Praeventionsgesellschaft/!5239187/
sind heute kaum noch denkbar. Ideen wie Impfzwang sind gesellschaftsfähig geworden.
1 was der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble schon im Nachgang zur ersten Welle gesagt hatte: Wenn er höre, dass alles andere hinter dem Schutz von Leben zurückzutreten habe, sei dies in dieser Absolutheit nicht richtig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in der Verfassung gebe, sei es die Würde des Menschen.