Wo sind die SoziologInnen oder PolitikwissenschaftlerInnen, die Gouvernementalitätsstudien betreiben? Das was gerade - seit rund einem Jahr sehr unübersehbar - passiert, ist doch auf dem Silbertablett präsentierter Stoff für Gouvernetmentalitätsanalysen:
Gouvernementalitätsanalysen fragen nach der »Kunst des Regierens« in
dem weiten Sinne, in dem Foucault den Begriff der Regierung verwendete:
Sie untersuchen Mechanismen der »Menschenführung« (Foucault 2004a:
183) von der Mitarbeiterführung in Unternehmen, über die Erziehung von
Kindern oder die alltäglichen Kontrollpraktiken in öffentlichen Räumen,
von Impf- und Präventionskampagnen bis hin zu staatlichen Steuerungsre-
gimes oder den Strategien transnationaler Institutionen wie der Europäi-
schen Union oder der Vereinten Nationen.
(...)
(...) Gouvernementalitätsanalysen eröffnen ein epistemisch-politi-
sches Feld, das Foucault als »Wahrheitspolitik« bezeichnet hat. In diesem
Punkt treffen sie sich mit diskursanalytischen Forschungen. Anders als die
traditionelle Ideologiekritik beschreiben sie Ideen, Konzepte oder Theo-
rien nicht entlang der Unterscheidung wahr/falsch und unterstellen keinen
Gegensatz von Macht und Wissen. Gouvernementalitätsanalysen untersu-
chen vielmehr, über welche administrativen Prozeduren, diskursiven Ope-
rationen, Sprecherpositionen und institutionellen Legitimationen Wahr-
heiten produziert werden, die ihrerseits Plausibilitäten erzeugen: Gouver-
nementale Interventionen erscheinen immer nur innerhalb bestimmter
Wahrheitsregime denkbar und akzeptabel.
(...)
In der Perspektive der Gouvernementalitätsstudien erscheint Freiheit
nicht als das Gegenteil von Macht, sondern als deren zentrales Medium.
Machtausübung ist nur dort möglich, wo es Freiheit, im weitesten Sinne
von Handlungsoptionen, gibt. Regierungspraktiken steuern nur in Aus-
nahmen durch unmittelbare Reglementierung. Das Prinzip von Befehl und
Gehorsam und erst recht die Ausübung von Zwang sind aufwändig und
mit hohen Risiken verbunden. Effektiver erscheint es, die Menschen anzu-
halten, sich selbst zu regieren, ihnen positive Anreize zu geben, ihre Frei-
heit in einer bestimmten Weise auszuüben. Regieren bedeutet Kraftfelder
zu generieren, die bestimmte Verhaltensformen wahrscheinlicher machen
sollen als andere.
Aus: Ulrich Bröckling und Susanne Krasmann: Ni méthode, ni approche. Zur Forschungsperspektive der Gouvernementalitätsstudien – mit einem Seitenblick auf Konvergenzen und Divergenzen zur Diskursforschung. URL: https://www.soziologie.uni-freiburg.de/personen/broeckling/dokumente/20…
Gouvernementale Strategien zielen darauf ab, die Bevölkerung durch Regulation – zum Beispiel hinsichtlich ihrer Generativität (Geburts- und Sterblichkeitsraten), Gesundheit, Produktivität und Mobilität – zu verwalten. Sie operieren auf der Ebene von Populationen, nicht von Individuen, nutzen Dispositive der Sicherheit, d.h. strategische Arrangements von Diskursen und Praktiken, die Risiken minimieren sollen, und folgen dem Postulat ökonomisch zu kalkulierender Interventionen.
Aus: Ulrich Bröckling: Gouvernementalität – die Regierung des Selbst und der anderen. URL: https://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-531-19564-3_3
Aus meiner Sicht erschließt sich aus der Perspektive von Gouvernementalitätstudien, warum jede Verschwörungstheorie zu kurz griffe – und warum es bei dem Protest gegen die Regierungspraktiken derzeit nicht darum geht, eine Verschwörungstheorie anzunehmen: Wir brauchen keine Verschwörungstheorien, weil es nach der oben dargestellten Theorie keine „Verschwörung“ gibt. Eine Analyse nach den „methodologisch- analytischen Prinzipien“ der Gourvernementalitätsanalyse ist ungleich komplexer, kommt aber wahrscheinlich den zu bewältigenden Problemen und möglichen Lösungen wesentlich näher.
Bei der Recherche mit der Frage: "Was macht eigentlich Ulrich Bröckling? Was sagt er zum aktuellen Umbau der Gesellschaft?" stieß ich auf Philipp Sarasin und fand einen Artikel zum aktuellen Geschehen: Mit Foucault die Pandemie verstehen? URL: https://geschichtedergegenwart.ch/mit-foucault-die-pandemie-verstehen/
Er kommt somit wohl auf ganz andere Schlussfolgerungen als Matthias Burchardt.