Heute im Zug von Österreich nach Deutschland
Die Durchsage der Zugbegleiterin verschärft sich je länger wir auf "deutschem Boden" sind: Zunächst wies sie nach den Stationen darauf hin, dass man sich jetzt in D befinde und auch für diesen Zug die Pflicht, FFP2 Maske zu tragen, gelte.
Nach Rosenheim sagte sie mit Wut in ihrer Stimme: "Vielen Dank an alle, die Maske tragen. ALLE ANDEREN SOLLTEN SICH SCHÄMEN! Es ist GESETZ, die Maske zu tragen. Wer sich weigert, wird an der nächsten Haltestelle des Zuges verwiesen."
Zwei Tage vor Abschaffung der Maskenpflicht in Bayern - die ja, Christina Berndt: mit guten Gründen1 - endlich abgeschafft wird, was sie in allen anderen europäischen Ländern längst ist, werden Menschen beschämt, angeprangert, in einer kaum zu überbietenden paternalistischen Weise abgekanzelt. Dieselbe Zugbegleiterin wird diese Aufforderung, dass Menschen sich schämen sollen, in zwei Tagen nicht mehr sagen. Warum? Weil es nämlich nicht darum geht, dass Masketragen prinzipiell ethisch verpflichtend ist, sondern nur und solange wie DAS GESETZ es verlangt.
Mit dem Verweis auf das Gesetz und dass man nur seine Pflicht täte, weil man dem Gesetz gehorche, wurde und wird in der Geschichte der Menschheit großes Unrecht getan. Ein solcher Verweis von einer Frau mit einem unverkennbaren Dialekt aus Regionen der ehemaligen DDR ist umso erschreckender. Dass etwas "Gesetz" ist und daher getan werden müsse, ist kein ethisches Argument. Genau genommen ist es gar kein Argument, sondern ein Druckmittel.
Einem Gesetz oder Druckmittel können gute Gründe zugrunde liegen. In diesem Fall ist das zumindest fraglich, wenn das Gesetz eben in zwei Tagen verändert werden soll UND wenn es dieses Gesetz in keinem Nachbarland gibt - sind die alle zu ignorant, um die guten Gründe zu kennen?
Leider war dies nur einer von vielen Fällen, in denen ich wörtlich und ausschließlich mit dem Verweis auf das Gesetz in aggressiver Weise zum Masketragen aufgefordert wurde. In Verbindung mit dem Versuch der Beschämung2, war er allerdings der bestürzendste.
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1 Ein guter Grund, keine Maske zu tragen:
2 Geschichte von Gefühlen: Öffentlich beschämt (tagesspiegel.de)
"Ob die öffentliche Demütigung zurückgekehrt ist, braucht man in Zeiten des Online-„Shitstorms“ kaum zu fragen. An solch aktuellen Beispielen sind Historiker, die sich mit der Geschichte der Scham im 20. Jahrhundert beschäftigen, allerdings weniger interessiert. Auf einer Konferenz des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung behandelten Forscher unlängst vielmehr überwiegend Beschämungsaktionen infolge des Zweiten Weltkriegs. Scham, das zeigte die Konferenz, ist ein hochkomplexes Gefühl, das gerne politisch eingesetzt wird.
(...)
Scham, so viel darf man bei aller historischen Feinjustierung festhalten, ist eng mit Schuld verbunden und doch etwas anderes. Schuld ist privat, man kann sie anerkennen, büßen, ablehnen. Die Scham ist öffentlich, manche sagen, sie sei ein „soziales Gefühl“. Es braucht dafür immer andere, die die Rolle der moralisch Überlegenen übernehmen. Dabei ist die Scham in erster Linie ein Produkt der Imagination. Sie entsteht durch die Angst, von anderen negativ gesehen zu werden, und hat gleichzeitig vor allem mit gesunkenem Selbstwert zu tun. Scham ist auch deshalb sozial, weil sie Menschen daran erinnert, zu welcher moralischen Gruppe sie gehören wollen."