Ich habe leider trotz Ausgangsbeschränkungen nicht soo viel Zeit, da ich normal arbeiten und als Hauslehrerin fungieren muss ...
dennoch auch von mir mal wieder ein paar Gedanken dazu.
Das Argument, dass das Gesundheitssystem entlastet werden muss, klar, das Problem wäre längst nicht so groß, wäre das nicht seit Jahren kaputtgespart worden.
Soziale Distanz/Ausgangssperren sollen verhindern, dass sich viele Menschen anstecken. Was mir aber überhaupt nicht verständlich ist, warum nicht wesentlich massiver getestet wird? Wieso fehlt es an den Tests? Sind die zu teuer oder nicht herstellbar? Sind Ausgangsbeschränkungen wirtschaftlich gesehen (oder erstmal für den Staatshaushalt) billiger?
Denn auch dazu gibt es Experten, die sagen, das wäre deutlich effektiver, um die Infektionsketten zu unterbrechen als Ausgangsbeschränkungen.
Die uns täglich, stündlich präsentierten Zahlen von Infizierten und Toten machen uns allen Angst, auch mir immer wieder. Aber mir (und nicht nur mir) machen auch zunehmend andere Dinge Angst.
R. arbeitet als Familienhelfer und Therapeut, er hat Familien mit 6, 9 Kindern (die er jetzt nicht mehr besuchen darf, allerdings sich nicht unbedingt dran hält). Diese Kinder sind nun alle auf unbestimmte Zeit in "Zuhausen", in denen es schon vorher nicht gut geklappt hat. Sie haben keine Kita, keine Schule mehr, die Jugendämter haben einfach geschlossen, genauso wie natürlich alle anderen Orte, wo man zur Entlastung, Therapie, Freizeitgestaltung hingehen konnte. So viele Menschen, Kinder werden jetzt ihrem Schicksal überlassen und es gibt keine Sicherheiten, wann das aufhört. Ist es nun moralisch geboten, dass R. dennoch nach diesen Menschen schaut oder ist das "unsolidarisch" (das wird das Top-Wort des Jahres). Wem gegenüber?
In diesem Artikel finden sich - etwas verstreut - ein paar von den warnenden Stimmen:
"++ 24.3.2020, 17.31 Uhr: Ein Expertengremium des Europarats warnt vor negativen Folgen von Ausgangssperren für Kinder und Frauen: Bewegungseinschränkungen begünstigten Missbrauch und Gewalt in den eigenen vier Wänden, warnte das Gremium zu Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Grevio) der Staatenorganisation. „Wir hören, dass sich einige Opfer von Gewalt aus Angst vor einer Ansteckung dagegen entscheiden, medizinische Hilfe aufzusuchen“, erklärte Grevio-Vorsitzende Marceline Naudi."
Meine Liste von gestern, wer eigentlich profitiert von den Entwicklungen (Stichworte Digitalisierung, Überwachung), möchte ich heute noch ergänzen durch etwas, das ich (angelehnt an Norbert Elias) "Monopolisierung" nenne: Ich dachte "auf den ersten Blick profitiert 'die Wirtschaft' nicht", aber so allgemein stimmt das ja nicht: Alle kleinen Einzelhandelsgeschäfte müssen schließen, schon vorher ist ein Großteil der Menschen primär in die großen Handelsketten wie Aldi, Lidl, Edeka und Co. gegangen, jetzt gibt es nur noch diese und sie machen einen Wahnsinnsprofit (nicht zuletzt durch Hamstern). Die wenigsten privaten Restaurants, Cafes, können einen wochen- oder monatelangen Shutdown abfedern, überleben und letztlich profitieren werden nur die großen Ketten wie McDonalds, Starbucks und Co.
Würden wir täglich, stündlich mit Zahlen von diesen Schicksalen und Entwicklungen gefüttert, wir hätten vielleicht nicht weniger Angst als vor Corona.
Zum Stichwort Verschwörungstheorie:
Nein, weder die von mir erwähnten Elias und Foucault noch ich gehen von einer Verschwörung von einigen oder mehreren verbrecherischen Menschen aus. An Norbert Elias schätze ich sehr, wie sachlich er versucht, die großen, sehr langfristig verlaufenen Entwicklungen und Strukturwandlungen im Prozess der Zivilisation zu beschreiben, die er im Großen und Ganzen als zunehmende Integrierung und Zentralisierung (natürlich mit phasenweisen Rückwärtsbewegungen) beschreibt. er geht dabei extrem empirisch und beschreibend vor. Die Begriffe in einem Blog zu beschreiben, sprengt den Rahmen, aber die beschriebenen Monopolisierungsprozesse fallen da hinein.
Elias betonte immer wieder, dass es ihm wichtig ist, keine Bewertungen machen a la der Prozess ist eine Entwicklung zum Besseren oder Schlechteren, weder wollte er sagen, die Menschen werden immer vernünftiger und freier, noch diese Entwicklungen sind alle schlecht und früher wäre alles besser gewesen.
Beide Elias und Foucault, auf den ich mich hier auch bezogen habe, haben eine Machttheorie, in der sie immer wieder betonen, dass sie die Dichometrie von "den Mächtigen" und den "Ohnmächtigen" ablehnen und versuchen, die Komplexität der Machtprozesse und unser aller Verflechtung darin zu fassen.
Die beschriebenen Prozesse sind keine Verschwörung, die auf den Intentionen einzelner Subjekte beruhen, sondern komplexe Verflechtungen, die keine einfachen Antworten und Handlungsansätze ermöglichen.
Aber niemand hat gesagt, dass es einfach werden wird, und so bemühen wir uns eben darum, auch mit schwierigen Fragen und Antworten umzugehen und machen uns Gedanken, wie wir jeder auf seine Weise Ver-Antwortung übernehmen können.
Ich hänge übrigens mal meine Masterarbeit an, die sich eben mit dem langfristigen Prozess der Zivilisation beschäftigt und im letzten Drittel die Überlegungen zu unserer Zeit/Gesellschaft enthält. Die erfordert natürlich Zeit, Muße und Interesse, aber damit wird etwas verständlicher, was ich derzeit beobachte und dass ich keine Verschwörungstheorie annehme.